Zu den ersten Dingen, die sie über ihn erfahren hatte,
gehörte, dass man ihn nur Nathaniel nannte, wenn man wütend auf ihn war. Sonst
war er Nate.
Selene war sofort von ihm begeistert gewesen. Von seiner
ganzen Art, die die Aufmerksamkeit auf sich zog. Von seinem Humor, der zu
gleichen Teilen morbid und selbstironisch war. Von seinem Aussehen, das nicht
unbedingt den Regeln der klassischen Schönheit entsprach, wohl aber dem, was
sie immer und immer wieder an Männern anziehend fand. Groß, schmal, dunkle
Haare und Augen. Eine Spur Sommersprossen wirkte wie auf sein Gesicht
gesprenkelt. Seine Augen waren vielleicht ein wenig klein und die Haare waren
einst voller gewesen, doch Körper veränderten sich mit der Zeit. Für sie blieb
er nahezu perfekt.
Gerade war eh nur seine Hand wichtig, die schon viel zu
lang auf ihrer lag.
„Du bist so gemein“, sagte sie anklagend, ohne in seine
Richtung zu schauen.
„Du kennst mich doch.“
Sie waren länger auf der Arbeit geblieben, um über ein
gemeinsames Projekt zu sprechen, doch diese Unterhaltung war seit einer guten
Viertelstunde vorbei. Seitdem saßen sie beieinander, redeten wenig, aber gingen
auch nicht nach Hause. Doch dieses Halbschweigen machte Selene langsam nervös.
„Vielleicht sollten wir langsam gehen, ich glaube, meine
Katze-“
„Du liebst mich, oder?“
Seine Frage ließ sie sofort verstummen. Sie schaute zu
ihm hinüber und konnte sich vorstellen, was für ein Bild sie abgab. Große
ertappte Augen in einem blassen Gesicht, das sogar noch farbloser war als
sonst. Ihre Zuneigung war nie ein richtiges Geheimnis gewesen, denn jeder ahnte
es in irgendeiner Form. Dass er es wusste, war ihr auch immer bewusst, aber das
gehörte zu den Sachen, über die sie nicht sprachen. Vielleicht kroch deshalb eine
gewisse Panik über ihren Rücken und sorgte für Gänsehaut.
„Wir kennen uns schon ein paar Jahre und irgendwie sind
wir von Anfang an befreundet. Natürlich liebe ich dich.“
Nate schüttelte mit dem Kopf, was wohl eine unterbewusste
Geste war. „Das meine ich nicht.“
„Was dann?“, versuchte sie sich dumm zu stellen, nur um
zu sehen, wie er ein wenig näher rückte. Ihr Körper riet ihr zur Flucht, doch
sie erstarrte nur.
„Jedenfalls nicht Philia.“
Es dauerte kurz, ehe sie sich an ein Gespräch vor wenigen
Jahren erinnerte, in dem sie irgendwann auf die alten Griechen gekommen waren –
und auf die vier Formen der Liebe, die sie zu unterscheiden wussten.
„Sag doch einfach, was du meinst. Sonst bist du auch
direkter.“
„Ich habe dich gerade direkt gefragt und du bist ausgewichen.“
Selene wandte den Blick auf seine Hand, die immer noch so
selbstverständlich auf ihrer lag. Es wäre eine Lüge zu behaupten, sie habe
seine Frage nicht kommen sehen. In den vergangenen Tagen hatten sie immer
wieder eng zusammengearbeitet und sie wusste selbst, dass sie dazu neigte, wie
ein verliebter Teenager zu gucken. Vielleicht machte das eine Antwort so
schwierig.
„Ich denke nicht, dass es in irgendeiner Form eine Rolle
spielt, was ich fühle“, rang sie sich schließlich zwischen zusammen gebissenen
Zähnen ab.
Nates dunkle Augen nahmen einen weichen Zug an, bei dem
ihre Knie weich wurden. Das war völlig falsch, schließlich war er ein Mann mit
Hund und Kind und Freundin. Ein Mann, der ihren Handrücken tätschelte.
„Macht es dich nicht unglücklich?“, fragte er leise.
Sie lachte freudlos auf. „Kommt auf meine Tagesform an.“
An einigen Tagen wollte sie ihn nur an sich ziehen und sich
von ihm halten lassen, vielleicht noch mehr. An anderen Tagen sah sie ganz
klar, dass diese Verliebtheit irgendwann vergehen würde.
„Solange du glückli-“
Als er sanft mit warmen Fingern über ihre Wange strich,
verlor sie den Faden. Das durfte er nicht machen, weil er seine Familie hinter
sich hatte, die er nicht hintergehen konnte.
Selene schluckte trocken, wich dann zurück und zog ihre
Hände an ihre Brust. Nate guckte verwirrt.
„Ich mache dein Glück zuhause nicht kaputt, das war nie
meine Absicht. Und jetzt entschuldige mich bitte, es ist schon spät.“
Er hielt sie nicht auf, als sie sich anzog und den Raum
verließ. Ein Teil von ihr wünschte sich, dass er es tat, sie in die Arme nahm
und ihr süße Nichtigkeiten ins Ohr flüsterte. Aber es würde sie nicht auf Dauer
glücklich machen, sie beide nicht.
Wieder ein eigentlicher kurzer Text, in dem du aber ein ganzes Universum erschaffst, mit Charakteren, die einem als Leser unglaublich nah und greifbar erscheinen. Ich bin immer wieder beeindruckt.
AntwortenLöschenIch finde es auch toll, dass du immer wieder was neues probierst und dich austestest.
In letzter Zeit schreibe ich viele Dinge, die mir selbst besonders nahe gehen - und ich glaube, das spiegelt sich ein bisschen wider.
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