Es war wie immer, wenn Mia mit Leuten
zusammen war, die sie nicht gut kannte. Oder generell mit mehr als
zwei Personen, selbst wenn sie diese kannte. Sie lächelte in ihren
Drink, antwortete auf Fragen, aber begann kein Thema von sich aus.
Dieses Verhalten hatte sie sich einst antrainiert, als ihr klar
geworden war, wie wenig sie zu den Menschen um sie herum passte.
Lindsay neben ihr seufzte gerade
theatralisch und begann eine passionierte Diskussion mit einem der
anderen Gäste, deren Namen Mia größtenteils sofort vergessen
hatte, über den weltweiten Fischfang und insbesondere über die drei
Nationen, die nach wie vor Wale fingen. Offiziell zu
Forschungszwecken, wollte Mia dazu sagen, doch sie griff nur nach dem
Plastikbecher, den Louis ihr reichte. Louis kannte sie seit knapp
zwei Jahren, war seit eineinhalb dazu in der Lage, mehr als ein
„Guten Morgen“ mit ihm auszutauschen, und wollte ihn auf der
Arbeit nicht mehr missen. Genau wie die Gastgeberin, Steph. Der
Sonnenschein.
Wie gelangen introvertierte Menschen an
extrovertierte Freunde? Die Extrovertierten müssen sie finden und
sie adoptieren.
Anders war das bei Mia nicht gewesen.
Steph hatte sie kennen lernen wollen und immer wieder auf
Unterhaltungen bestanden. Von sich aus hätte Mia weit aus weniger
erzählt, als am Ende aus ihr hinaus gekommen war.
„Was ist das?“, fragte sie beim
Blick in ihren Plastikbecher.
„Whisky Cola“, antwortete Louis
knapp. „Du kannst das brauchen, du trinkst eh immer viel zu wenig.“
Sie schmunzelte, ehe sie ihm sanft auf
die Schulter klopfte. „Danke, dass du immer so auf mich aufpasst.“
Dankbar war sie tatsächlich, nur
wusste sie nicht, ob sie sich damit so wohlfühlen sollte. Steph und
Louis waren zwei der Menschen, in deren Gegenwart sie sich besonders
ausgeglichen fühlte, gerade so, als könnte sie alles mit ihnen
besprechen. Die Jahre hatten sie gelehrt, dass es solche Beziehungen
nicht gab, weshalb ihr Freundeskreis immer weiter geschrumpft war,
bis nur noch drei Personen übrigen geblieben waren. Dann war Steph
in ihr Leben getreten und hatte sie, die introvertierte Landmaus mit
den nichtssagenden braunen Augen und Haaren, vollends adoptiert. Sie
gingen ins Kino, sie gingen shoppen, sie tranken zusammen. Stephs
Anwesenheit machte das alles gut und trotzdem war da immer der Teil
von Mia, der sich unsicher war, was er davon halten sollte.
Als Teenager war sie von den Kindern
ihres Jahrgangs eigentlich immer ignoriert worden, seit die Pubertät
begonnen hatte. Ihre schüchterne Ader war perfekt gewesen, um sie in
die Rolle des Opfers zu stecken und, um fair zu bleiben, sie hatte
sich diesen Schuh zum Teil auch selbst angezogen. Nur konnte sie noch
immer nicht verstehen, wie aus Kindern, mit denen sie zuerst jede
Pause und auch einen guten Teil ihrer Freizeit verbracht hatte,
irgendwann Leute geworden waren, die sich beschwerten, wenn sie sich
schon wieder um sie kümmern sollten. Niemand hatte sich kümmern
müssen, es war meist nur um die Aufteilung zu einer Gruppenarbeit
gegangen. Die Freunde von einst wollten jedoch nichts mehr mit ihr zu
tun haben und es war ihr schwer gefallen, in irgendeiner Gruppe neu
Fuß zu fassen.
Schnell trank sie einen Schluck Whisky
Cola, um diese Erinnerung wegzuspülen und das sanfte Lächeln auf
ihren Zügen halten zu können, obwohl es wahrscheinlich dämlich
aussah.
„Sag mal“, begann Louis und rückte
ein wenig näher an sie heran, „fühlst du dich nicht wohl?“
Mia seufzte leise. „Du kennst mich
doch. Ich rede mit niemandem, das ist alles.“
„Du kennst sie ja auch noch nicht,
das wird schon. Wenn wir uns das nächste Mal mit ihnen treffen, ist
das schon besser, okay?“ Er knuffte sie leicht in die Seite, was
ihr ein kurzes Lachen entlockte.
„Okay.“
Vielleicht war das eine Lüge.
Vielleicht würde es niemals besser werden, weil sie sich zu gut
kannte und genau wusste, dass sie beim nächsten Treffen irgendetwas
Dummes sagen würde, das sie sofort in eine Schublade steckte, in der
sie nicht sein wollte. Oder es ging in die andere Richtung, die sie
schmerzlich in Erinnerung behalten hatte. Sich öffnen, vertrauen –
und dann mit etwas konfrontiert werden, das dem Vertrauen jede
Grundlage entzog. Ein „das darfst du nicht weitererzählen“ wurde
schnell zu etwas, das in aller Munde war. Ein „natürlich machen
wir das zusammen“ entwickelte sich zu einem Alleinsein, das tiefer
ging als jedes davor. Mia war nicht von Grund auf pessimistisch
gewesen, auch nicht unsozial. Aber mit jedem weiteren Jahr hatte sie
sich mehr und mehr in diese Richtung verändert.
„Hey“, sagte Louis, während er an
ihrer Hand zog, „wir gehen jetzt raus.“
„Wieso?“
Er griff über die Sofalehne nach ihren
Jacken. „Du brauchst die frische Luft.“
Mit gekrauster Stirn schlüpfte sie in
ihre Jacke und ließ sich von Louis in den Garten führen, in dem
sich nur wenige Gäste aufhielten. Für ihren Geschmack noch zu
viele. Doch bei ihnen blieb Louis nicht stehen, sodass Mia ihm noch
ein ganzes Stück folgte, ehe er sich abrupt umdrehte und ihr den Arm
um die Schulter legte.
„Willst du lieber gehen?“
Langsam schaute sie hinauf in seine
Augen, deren Farbe sie im Schummerlicht nicht erkennen konnte. Nur
die Sorge in ihnen war überdeutlich und gefiel ihr nicht. Sie wollte
nicht, dass sich jemand ihretwegen sorgte, das war nie ihr Plan
gewesen. Wenn man sich nicht sorgte, musste man sich auch nicht
kümmern – selbst wenn es nicht um Gruppenarbeiten ging.
„Alles gut“, log sie, zwang sich zu
einem Lächeln.
Louis rieb ihr über den Oberarm. „Das
glaub ich dir irgendwie nicht.“
Sie öffnete den Mund, schloss ihn dann
wieder. Ihr lag vieles auf den Lippen, das sie ihm jetzt sagen
könnte. Wie sehr sie sich dafür hasste, nicht besser mit Menschen
umgehen zu können, beispielsweise. Oder dass sie keine Verbesserung
bei sich sah. Dass sie Angst davor hatte, wenn Sachen sich zu ändern
drohten. Und wie wenig sie verstand, was Steph und er in ihr sahen.
Aber sie blieb ruhig und griff nur nach
seiner Hand. „Du musst mir schon vertrauen“, spielte sie die
gemeinste aller Karten aus, „was sollte denn nicht gut sein?“
Ganz toller und großartiger Text!
AntwortenLöschenIch hab immer mal wieder vorbeigeschaut, ob's hier was neues von dir gibt und trotzdem nicht mitbekommen, dass hier schon zwei Wochen lang ein Post von dir wartet gelesen zu werden! Schande über mich!
Der text ist wundervoll geschrieben und ich bin erschrocken, wie gut ich mich mit Mia identifizieren kann.
Das Thema hast du echt toll und ausdrucksstark umgesetzt.