Nach einer langen Durststrecke musste ich sie mal wieder schreiben.
Seit wir vor wenigen Wochen vom Land zurückgekehrt waren,
konnte ich die Veränderung in Christopher sehen. Er verrichtete den Dienst, den
er sich selbst aus mir noch immer unbekannten Gründen auferlegt hatte. Er war
immer in meiner Nähe. Doch er hätte ferner nicht sein können. Vorüber waren die
Zeiten, in denen ich mit ihm scherzen konnte, wenn uns niemand hörte. Sein
Vertrauen in mich schien er vollends verloren zu haben.
Und nun stand er auf der anderen Seite der Tür, weil ein
neuer Tag begonnen hatte. In einer halben Stunde würde ich geweckt werden. Kurz
danach würde mir jemand in meine Kleider helfen und mich frisieren. Auf mich
wartete ein kurzes Frühstück, das dem Ernährungsplan von Doktor Smith entsprach,
der mich für zu dünn hielt, um diesem Land für lange Zeit zu dienen. Oder gar
für einen Thronfolger zu sorgen, sofern ich jemals heiratete. Alles folgte
einem geregelten Ablauf – genau wie immer.
Ich schlug meine Decke zur Seite, setzte mich auf. Mir
stand ein weiterer Tag bevor, an dem nichts Bedeutsames geschehen würde, weil
das nicht im Verlauf berücksichtigt wurde. In der Schwebenden Festung, vor so
unvorstellbar langer Zeit, war ich auf gewisse Weise freier gewesen als hier.
Das Leben als versteckte Prinzessin unter den Ehrenwerten Brüdern gehörte zu
den Dingen, nach denen ich mich am meisten sehnte, so wenig es einige auch
glauben würden.
Dies war nicht der Moment darüber nachzudenken.
Langsam stand ich auf und zog mir meinen Morgenrock über,
ehe ich vor meiner Tür verharrte. Ich wusste, dass Christopher die Wachen auf
der anderen Seite vor einiger Zeit abgelöst hatte, denn sie waren nur sein
Ersatz in den Nachtstunden, damit auch er mal ruhen konnte. Seine Tage begannen
früher als meine, obwohl das ungerecht war.
Ich atmete noch einmal tief durch, dann öffnete ich die
Tür. Christopher blickte kurz zu mir, wandte den Blick dann wieder in den Gang.
„Bist du wütend auf mich?“, fragte ich leise.
Er seufzte. „Dann wäre ich schon verschwunden.“
Diese wenigen Worte beruhigten mich ein wenig. Ich wollte
nicht, dass er wütend auf mich war oder mich im schlimmsten Fall sogar
verachtete. Christopher war mir wichtig, was ich so niemandem sagen durfte,
obwohl es alle ahnten. Aber man erwartete die falsche Beziehung zwischen uns.
„Was ist es dann? Du redest kaum noch mit mir.“
„Das steht mir auch gar nicht zu, wenn ich nicht
angesprochen werde.“
Ich schaute ihn nur entgeistert an, obwohl ich mir lieber
die Haare raufen wollen sollte. Seine Ablehnung war ganz anders als sein
Verhalten vor kurzer Zeit gewesen war, sodass ich mit ihr nicht recht umzugehen
wusste. Also folgte ich einem Impuls und stellte mich genau vor ihn, damit ihm
weniger Möglichkeiten blieben, an mir vorbei zu schauen. Was vielleicht
eindrucksvoller gewesen wäre, bestünde zwischen uns nicht eine gewisse
Differenz in der Statur. Dennoch wagte er es nicht, seinen Blick in eine andere
als meine Richtung zu wenden.
„Dann befehle ich dir jetzt, mit mir zu reden. In Ruhe.“
Mit einer Hand deutete ich auf meine Tür.
„Das ist, mit Verlaub, eine dumme Idee.“
Ich hielt seinem Blick stand, bis er sich meiner
Anweisung fügte und in meinen Schlafraum ging. Das würde zu mehr Gerüchten
führen und ich könnte eine Aussprache mit ihm jederzeit suchen. Doch jetzt, da
ich endlich den Mut gefasst hatte, wollte ich es möglichst schnell hinter mich
bringen.
Nachdem ich ihm in den Raum gefolgt war, schloss ich die
Tür und machte mich so gerade ich konnte. Für meinen Leibarzt mochte ich zu
dünn sein und somit wenig imposant wirken, aber ein wenig königliche
Ausstrahlung musste ich ja besitzen.
„Was soll das?“, fragte Christopher gereizt.
„Diese Frage kann ich dir auch stellen. Ich verstehe
nicht, was ich getan habe, dass du so auf mich reagierst.“
„Du hast nichts getan.“
Diese Worte hallten einige Augenblicke in meinen Ohren
nach. Sie waren alles, was ich mir ständig selbst vorwarf. Ich war untätig,
deshalb hatte sich das Volk nicht an mich gewöhnt. Aber das konnte es nicht
sein, was Christopher meinte, also überlegte ich, während ich zu meinem Bett
schritt, auf dem ich Platz nahm. Christopher blieb stehen und beobachtete mich.
In seinen Augen sah ich eine Zurückhaltung, die ich von ihm nicht in meiner
Gegenwart kannte. Eine unterschwellige Kälte, die mich in ihre Klauen nehmen
wollte. Alles hatte angefangen, als-
„Was hätte ich denn mit Elrica machen sollen?“, fragte
ich frei heraus. „Sie mit uns nach London holen? Ihr eine großzügige Summe als
Wiedergutmachung für ihr Leid geben? Sie ist und bleibt eine Diebin, wenn auch
unverschuldet, die mehrfach in den Palast eingebrochen ist. Meine
Glaubwürdigkeit stünde auf dem Spiel, hätte ich mich noch mehr für sie
eingesetzt.“
Christopher öffnete den Mund, sagte jedoch nichts.
Stattdessen ging er vor mir in die Knie und nahm meine Hände in seine, so
zärtlich, dass ich nichts mit der Geste anzufangen wusste.
„Wenn es nach mir ginge, müsste niemand leiden“, fuhr ich
leiser fort, „erstrecht nicht wegen uralter Artefakte im Besitz dieses
Königshauses. Es steht nur nicht in meiner Macht, das zu verhindern. Diese
Banditen hätten jemanden gefunden, der ihnen hilft, wenn nicht sie, dann jemand
anderen. Jemanden, der vielleicht nicht so stark ist wie Elrica. Vielleicht
haben sie das ja auch. Und-“
„Ich bin froh, dass dieses Land eine so gütige Königin
wie dich hat.“
Aus Christophers Stimme sprach Trauer nebst
Erleichterung, eine Mischung, die mich verwirrte. Ich schaute zu ihm hinunter,
wie er auf dem Boden verharrte und weiter meine Hände hielt, als hätte er das
schon unzählige Male getan.
„Güte bringt nichts, wenn man nicht akzeptiert wird.“
Das war eine Lektion, die ich jeden Tag aufs Neue lernte.
Ich mochte mich für meine gute Taten selbst loben, weil ich mit ihnen meinem
eigenen Verhaltenskodex entsprach. Doch über kurz oder lang würde jemand
wissen, wie man diesen Charakterzug gegen mich einsetzen konnte, um die Krone
von meinem Kopf zu bekommen. Ich kannte die Klatschspalten, die mich als
schwache Herrscherin verschrien – und die doch davon profitierten, dass ich
ihre Schreiber nicht wegen Hoheitsbeleidigung oder Hochverrats zur Rechenschaft
ziehen ließ.
„Ohne das Unglück in der Familie deines Onkels, Gott habe
ihn selig, wärst du niemals in dieser Position. Gib dir Zeit, dich daran zu
gewöhnen.“
„Ich- du lenkst vom Thema ab“, bemerkte ich ein wenig
spät.
Christopher seufzte, schaute ohne Fokus auf unsere Finger.
„Ich mache mir einfach Sorgen um Elrica, weil sie diesen großen Hof irgendwie
bewirtschaften muss. Ihre Mutter hilft ihr mit den Tieren, aber ihr Bruder war
so durcheinander, als wir ihn befreit haben, dass er wahrscheinlich keine Hilfe
ist. Und sie selbst ist nicht mehr so mobil…“
An der Art, wie seine Stimme am Ende brach, erkannte ich
erst, wie nahe ihm das Bild gegangen war, das Elricas Familie bei unserem
kurzen Abschied geboten hatte. Mrs. Johnson war zwar überglücklich gewesen,
beide Kinder wiederzuhaben, jedoch auch so ausgemergelt, dass ich gefürchtet
hatte, sie könne an ihrer Freude zerbrechen. Bernard, den sie wohl Bernie
nannten, war zu wenig mehr als kurzem Nicken fähig gewesen, wenn man ihn direkt
ansprach. Und Elrica? Sie hatte für mich nicht auf diesen Hof gepasst, der
eindeutig bessere Zeiten erlebt hatte.
Für mich war es schlimm gewesen, das alles zu sehen. Doch
für Christopher, der eindeutig mehr Gefühle für Elrica hegte, als er jemals vor
mir zugeben würde, musste dieses Bild eine Qual sein. Eine ständige Erinnerung
daran, wie machtlos wir am Ende waren, selbst wenn wir jemanden liebten.
Ich rutschte von der Bettkante herunter und hockte mich
vor Christopher auf den Boden, was ihn erst dazu brachte, mich wieder
anzusehen. Seine blauen Augen strahlten nicht mehr so wie vor wenigen Wochen,
dabei hatten sie mich immer im besten Sinn an Alec erinnert. Langsam entwand
ich meine Hände seinem Griff und zog ihn dann unbeholfen in die Arme.
Jemanden zu halten, war für mich eine merkwürdige
Erfahrung. Unter den Ehrenwerten Brüdern war es niemandem erlaubt gewesen, mich
jemals in die Arme zu schließen, und all die Male, die meine Eltern mit mir
geschmust haben mussten, waren längst vergessen. Einzig Alec hielt mich fest – auf
eine viel intimere Art als diese.
Es dauerte einen Moment, bis Christopher sich in meinem
Griff entspannte und ich seine Hände auf meinem Rücken spüren konnte, die sich
im Stoff meines Morgenrocks und Nachthemds festhielten.
„Ich werde irgendeinen Weg finden, ihr zu helfen, das
verspreche ich dir“, sagte ich unvorsichtig. Was war, wenn ich dieses Versprechen
nicht halten konnte?
„Das lässt sie gar nicht zu.“
„Aber-“
„Angelique“, Christopher wich ein Stück zurück, wodurch
mir sofort kalt wurde. „Deine Güte in allen Ehren: Wir wissen inzwischen beide,
dass Elrica zu stolz ist, Hilfe anzunehmen.“
Meine Finger rutschten über seine Arme, während seine an
meinen Seiten ruhten. Nach allem, was ich von Elrica erlebt hatte, lag er
völlig richtig.
„Du wirst nie wieder Ruhe finden, wenn du nicht genau
weißt, wie es ihr geht. Ich entlasse dich, wenn es dir hilft. Geh zu ihr. Sag
ihr, dass du sie-“ Ich zögerte. „Dass du sie unterstützen möchtest. Sie wird
das unnötig finden, aber wahrscheinlich doch einsehen.“
Die Spur eines Lächelns huschte über sein Gesicht, ehe er
den Kopf schüttelte.
„Dann bekommst du jetzt einen Befehl von mir“, sagte ich
und sah ihn ernst an, „schau nach ihr. Sieh dir an, wie es ihr geht. Danach
entscheiden wir gemeinsam – im besten Fall, indem wir sie einbeziehen – was wir
machen können.“
„Das wird niemals funktionieren.“
„Es ist ein Befehl deiner Königin.“
Sein Griff an meinen Seiten wurde stärker. „Warum tust du
das? Für mich, meine ich.“
Das hatte ich mich auch schon gefragt, wenn ich nicht
schlafen konnte. Es musste mir nicht nahegehen, wenn er sich wegen einer Diebin
schlecht fühlte. Dennoch konnte ich sein Leid fast körperlich spüren.
„Weil du mich
siehst. Du siehst Angelique und nicht die Königin.“
Seit er mich nicht mehr mit meinem Titel ansprach, auf
den ich an neun von zehn Tagen gut verzichten konnte, hatte sich unser Verhältnis
deutlich entspannt. Manchmal wusste ich zwar auch weiter nicht, was ich von ihm
halten sollte, weil mir seine Beweggründe einfach schleierhaft waren, aber ich
mochte seine Nähe.
„Wenn es mir möglich wäre, würde ich dich vor diesem
ganzen Theater hier retten, das du nicht einmal willst. Ohne den Tod deines
Onkels, Gott habe ihn selig, müsstest du das nicht durchmachen.“
Mir lagen viele Antworten auf der Zunge, die ich mir
nicht erlaubte. Es war Gottes Fügung, dass ich nun die Position auskleidete,
die mir von Geburt an zustand, also würde ich dies nicht hinterfragen.
„Lass uns nicht über etwas reden, was wir nicht ändern
können, okay?“, sagte ich schließlich leise. „Du hast den Befehl deiner Königin
gehört. Geh zu Elrica und schau nach ihr.“
Christopher nickte verhalten und war schon aufgestanden,
als er sich noch einmal zu mir beugte. Er strich mir sanft über die Wange, was
mich fast mehr verwirrte, als der kurze Kuss, den er mir auf die Stirn gab.
Meinem fragenden Blick wich er aus, indem er zur Tür ging.
„Ich werde meine Vorbereitungen für die Reise Treffen,
Majestät, und Euch alsbald Bericht erstatten.“ Damit war er verschwunden.
Ich blieb auf dem Boden sitzen, bis meine Zofe in den
Raum kam und sofort besorgt fragte, ob alles in Ordnung sei. Mir blieb nichts,
als sie zu versichern, dass es das war. Und doch ging mir die Frage nicht aus
dem Kopf, wie es wirklich um das Verhältnis zwischen Christopher und mir stand.
Ooooh, es freut mich total, dass es weitergeht! Ich bin ganz aufgeregt und hibbelig! Mit Christopher habe ich richtig mitgelitten! Die Stimmung und der Sturm, der in ihm tot, hast du richtig gut getroffen.
AntwortenLöschenEs freut mich total, das zu lesen :)
LöschenIch wundere mich immer wieder, wie nahe er und Angelique sich sind. Das war gar nicht meine Absicht.