Was genau hier geborgt und was blau ist, sage ich mal nicht. Aber blau nicht im deutschen Sinne, also nicht die Farbe.
The Second Pole
Ich hörte ihn, aber er schien
weit weg zu sein. Wie immer, wenn ich in diese Phasen rutschte, weil meine
Medikamente sie nicht verhinderten, nur weniger schlimm machten. Er war mein
Anker, so hatte ich es mir inzwischen zurechtgelegt. In seiner Nähe war alles
besser. Meistens.
Jetzt jedoch saß ich auf der
Couch und konnte ihn kaum noch wahrnehmen, weil alles, was ich jemals in meinem
Leben falsch gemacht habe, irgendwo in meinem Kopf unaufhörlich abgespielt
wurde. Eine Dauerschleife, die ich nicht unterbrechen konnte. Oder wollte.
Eine Hand griff nach meiner, was
mich erst begreifen ließ, dass ich versucht hatte, mir mit den Nägeln die Haut
an den Handgelenken aufzureißen. Deswegen trug ich meine Nägel immer kurz.
Alles für eine Minimierung der Verletzungsgefahr.
Einige Sekunden – es konnten auch
Minuten sein – betrachtete ich seine Hand auf meiner, ehe ich mich zu ihm drehte.
Diese ersten Tage waren immer am schlimmsten, für mich wie für ihn. Ich hatte
nur den Vorteil, dass ich das alles schon kannte. Die Episoden hatten in ihrer
Häufigkeit nachgelassen und ich nahm meine Medikamente regelmäßig genug, um das
Schlimmste zurückzuhalten. Dennoch ließ sich nicht alles verhindern.
Etwas sagte mir, dass mir sonst
beim Blick in seine Augen, auf seine Lippen warm wurde, weil ich ihn mehr
liebte als ich gewillt war mir einzugestehen. Aber in diesem Moment war er mir
fast egal. Er war einfach da. Neben mir. Und schaute mich an, obwohl er beim
allerersten Mal noch auf mich eingeredet hatte.
Vorsichtig strich ich ihm über
die Wange. Mir brachte das nichts, es bedeutete mir nicht viel, aber für ihn
war es wichtig. Und wenn ich Dinge tat, die ihm wichtig waren, dann schienen
die Fehler der Vergangenheit auch gar nicht mehr so schwer zu wiegen. Sein
vorsichtiges Lächeln würde die trüben Gedanken nicht vertreiben. Doch solange
er an meiner Seite war, würden die Gedanken daran, dem allen bald ein Ende zu
setzen, gar nicht erst zu weit nach vorne dringen.
Vor allen musste ich so tun, als
wäre alles mit mir in Ordnung. Als würde ich mich nicht durch den Tag quälen.
Vor ihm konnte ich einfach sein,
wie ich in diesen Phasen war. Ihm das aufzulasten war ungerecht von mir und
gehörte zu meinen größten Fehlern, die mich noch weiter in dieses Loch ziehen
wollten, das aus dem Nichts gekommen war.
„Ich weiß, du hast keinen
Appetit“, sagte er da gerade laut genug, um zu mir durchzudringen, „aber ich
habe Kekse mitgebracht. Die willst du doch nicht ablehnen?“
Ein kleines Lächeln stahl sich
auf mein Gesicht. Für ihn. Nicht für mich. Ihm lag mein Wohlergehen am Herzen
und dazu gehörten auch einfache Dinge wie essen oder schlafen, die mir einfach
nicht gelingen wollten. Ich war mein Leben lang schlank gewesen, aber jetzt
würde ich wieder einmal abnehmen. Er mochte das nicht, war es doch ein Zeichen
für den Verfall meines geistigen Zustands.
„Gut. Tee und Kekse.“ Weil ich
Kaffee nicht haben wollte, würde er mich doch nur noch mehr vom Schlafen
abhalten.
„Danach können wir-“, er
unterbrach sich selbst. Unter den Sommersprossen in seinem Gesicht begann seine
Haut rot zu werden. „Na ja, es ist kalt und deine Wanne ist groß.“ Das war sie
nicht, jedenfalls nicht übermäßig, aber ich wusste, wohin die Reise führen
würde. „Und dann können wir schlafen gehen.“
Mein kindlicher Anker. Er wollte
bei mir sein, damit ich in Ruhe den Schlaf nachholen konnte, der mir fehlte.
Mehr zu tun, als nur beieinander zu schlafen, kam für ihn nur in Frage, wenn er
sehr große Lust hatte und die mahnende Stimme der Vernunft in sein
Unterbewusstsein sperrte.
Ich beugte mich zu ihm und küsste
ihn sanft, woran er wesentlich mehr Freude empfand als ich. Ob ich ihm wohl
genug war? Er war ein Familienmensch und ich konnte ihm keine eigene Familie
gründen. Mit einer Frau an seiner Seite wäre er sicherlich glücklicher als mit
einem Fotografen, dessen beste Werke aus den manischen Phasen kamen.
„Zuerst der Tee. Dann sehen wir
weiter.“
For Your Entertainment
Sie zog den Lippenstift nach. Rot - dafür waren ihre
Augen dezent geschminkt. Der Blick in den Spiegel zeigte ihr eine Frau, die sie
nicht oder nur kaum kannte, und die sie schnell vertrieb. Mit wenigen
Bewegungen holte sie ein Tuch hervor, wischte sich den Lippenstift ab und
ersetzte ihn durch eine weniger knallige Farbe, damit sie die Augen betonen
konnte. Mehr schwarz, mehr Fülle für die Wimpern, mehr, mehr, mehr, bis sie
sich auch so nicht mehr erkennen konnte, mit dem Ergebnis jedoch zufriedener
war. Die grauen Augen als Fokus im Gesicht gefielen ihr besser als ihre Lippen
und er sollte auch auf ihre Augen
schauen, ehe er weiter nach unten blicken durfte. Augen, Lippen, das kleine
Schwarze, das sie bei einer Bekannten aufgetrieben hatte. Das war zwar nicht
sie, aber damit konnte sie leben, wenigstens für den Moment. Und es war ja auch
nicht so, als wäre sie einer Scharade vollends abgeneigt, wenn selbige zum
kurzweiligen Erfolg führte.
Flugs verließ sie ihren Raum, ehe sie es sich doch noch
einmal anders überlegen konnte. Den Weg zu seinem Zimmer kannte sie inzwischen
nur zu gut, immerhin war sie schon mehrfach bei ihm gewesen, ohne bei mit ihm
zu reden oder auch nur zu klopfen. Diesmal würde das anders laufen, ganz genau.
Ihr Herz, das kaputte, schlug wie wild gegen ihren Brustkorb und schien mit
jedem Schritt auf den High Heels lauter zu werden, bis sie schließlich im
gleichen Takt gegen das Türblatt klopfte. Nichts. Noch ein Versuch – und, ja,
diesmal wurde die Tür geöffnet, einen Spalt nur, als wisse er nicht, was ihn
erwartete.
„Hi“, sagte sie so selbstbewusst das bei einem kurzen
Wort möglich war.
Er schaute zu ihr hinunter, nicht so weit wie sonst,
immerhin kannte er sie nur auf flachen Schuhen, aber doch immer noch ein Stück.
„Hey.“
Die Kostümierung zeigte bereits ihre Wirkung. Er schaute
sie ein wenig verwirrt an, doch seinem Gesicht war anzusehen, dass ihm der
Anblick auch gefiel. Was ein genügend tiefer Ausschnitt doch erreichen konnte.
„Ich dachte, ich komme mal vorbei, immerhin kommst du ja
nie zu mir.“
„Okay...“
„Diesmal will ich auch gar nicht hier schlafen, also“,
sie zuckte wie beiläufig mit den Schultern und stemmte dann die Tür ein Stück
weiter auf, „außer du lässt mich hier schlafen, dein Bett ist ja groß genug.“
Dafür, dass sie eigentlich nur ein Angebot wiederholte,
das er ihr gemacht hatte, wirkte er doch recht verwirrt. Eine Nacht an den
One-Night-Stand dranhängen, das war es, was er ihr vor so vielen Wochen
vorgeschlagen hatte, worauf sie nicht eingegangen war. Bis jetzt. Weil sie
einsam war, weil sie traurig war, weil sie für eine weitere Nacht vergessen
wollte, nur für eine einzige Nacht, die sie wieder in einen Strudel aus
schlechten Gefühlen ziehen würde, der sie beschäftigt halten würde.
„Du, ich hab aber gerade zu tun, es ist wirklich
nicht...“ Eine sanfte Berührung am Arm, ein scheuer Blick, und er vergaß den
Rest seiner Ablehnung.
„Willst du mich wirklich wieder wegschicken?“ Es war
wieder wie Weihnachten, nur dass sie diesmal genau wusste, dass sie wollte, was
sie tun würden. Wollte sie doch?
Demon
Biest!
Da hatte sie es doch tatsächlich gewagt,
ihre Fingernägel in seine Haut zu graben und im Gesicht ein paar hässliche
Kratzer zu hinterlassen. In Ians Gesicht! Das war nichts, was nicht innerhalb
von ein oder zwei Tagen heilen konnte, aber es störte ihn trotzdem. Wenigstens
hatte er von dieser Schlampe noch bekommen, was er brauchte, um endlich die
Anerkennung zu erhalten, die ihm zustand. Ja, dafür war sie gut genug gewesen.
Er riss seinen Blick von der blitzblanken
Scheibe des Supermarktes los, in der er seine Reflexion gerade genug erkannt
hatte, um die Kratzer begutachten zu können, und machte sich auf den Weg zurück
zum Chef. Der würde große Augen machen, wenn er erfuhr, was Ian diesmal
erwischt hatte. Vielleicht rückte er sogar mit der einen oder anderen neuen
Kraft heraus. Unwillkürlich steckte Ian die Hand in seine Jackentasche und
strich über die Tüte, in der sich die Beute befand. Warm spürte er es leicht
durch das dünne Material pulsieren und konnte ein Grinsen nicht mehr
zurückhalten, wofür ihm einige fragende Blicke zugeworfen wurden. Doch die
waren ihm egal. All diese Menschen waren ihm vollkommen egal, denn von ihnen
konnte man nichts anderes erwarten, als ein leichtes Vibrieren, wenn man sie
bestahl.
Aber diese kleine Schlampe von vorhin
hatte dieses Pulsieren schon von sich gegeben, als sie nur an Ian
vorbeigegangen war. Mit wiegenden Hüften, die sich nicht mit ihren scheuen
Augen decken wollten. Sie wusste, dass sie Beute war – für Menschen und Dämonen
wie Ian. Doch im Gegensatz zu Ian und seinesgleichen hatten Menschen keine
Sensoren für Andersartigkeit. Sie lebten mit Wesen, die anders waren, zusammen
und mussten sich darauf verlassen, dass irgendjemand ihnen einen Fingerzeig
gab, mit dem sie die Anderen auch erkannten. Ansonsten waren sie ahnungslose
kleine Wesen ohne besondere Bedeutung. Natürlich konnte man auch sie bestehlen.
Doch wozu sollte man sich mit Krümeln zufrieden geben, wenn man die Rosinen aus
dem Kuchen picken konnte?
Ian setzte sich seine Sonnenbrille auf,
hinter der er seine roten Augen versteckte, die Menschen zu gerne für braune
Augen hielten, um sich nicht damit auseinandersetzen zu müssen, dass er ein
Dämon – also eine potentielle Gefahr – war. So dumm Menschen auch waren, musste
man ihnen doch lassen, dass sie einen unnachahmlichen Überlebenstrieb hatten.
Selbstschutzmechanismen, die sich gerne in Naivität zeigten. Sie konnten sich
nur freuen, dass Dämonen weniger hinter ihnen her waren. Was nicht hieß, dass
sie nicht auch gerne mal einen normalen Menschen anstatt eines Magiers nahmen.
Aber Ian war es ja nun gelungen, eine
Magierin zu finden. Noch dazu eine ziemlich starke, deren Kräfte nicht
versiegelt oder geschwächt worden waren. Allein das grenzte schon an ein
Wunder. Dann war auch noch nicht einmal eine Markierung auf ihr gesetzt worden
– ein Versäumnis, das Ian sofort nachgeholt hatte, damit man die Leiche auch
als Magierin identifizieren konnte.
Es war nur merkwürdig, wie kampflos sich
das Biest in sein Schicksal ergeben hatte. Normalerweise musste Ian eine Menge
Tricks auspacken, um überhaupt nahe genug an einen Magier zu kommen, um ihn zu
betäuben. Mehr als einmal war er dabei nur knapp mit dem Leben davongekommen.
Aber Magier verfolgten Dämonen nicht, wenn sie nicht zu den Jägern gehörten,
dafür waren sie zu dumm. Oder zu menschlich.
Ian strich sich durch seine kurzen
schwarzen Haare und schüttelte den Kopf. Er selbst sah auch menschlich aus,
hatte aber eindeutig Fähigkeiten, die über die eines Homo Sapiens hinausgingen.
Comic- und Filmfans bezeichneten seinesgleichen deshalb auch nicht als Dämonen
sondern als Mutanten – worüber er seit jeher nur milde gelächelt hatte. Die menschliche
Gestalt war nicht mehr als eine Hülle, doch das hatte noch keiner der
Wissenschaftler hier herausgefunden. Eine Hülle, die den Dämonen so sehr gefiel,
dass sie oft nicht einmal die richtige Gestalt derer kannten, mit denen sie
sich am häufigsten trafen. Was ihnen nichts ausmachte. Auch, dass sie von
Magiern dafür ausgelacht wurden, zwar einerseits Menschen zu hassen, sich aber
andererseits gerne als welche auszugeben, was schon bei der Vergabe der Namen
an den Nachwuchs begann, interessierte sie nicht. Was wussten Magier denn
schon? Die waren in diese Gestalt hineingeboren und konnten sie nur durch
größere Anstrengung ablegen.
Er sollte nicht über solche Dinge
nachdenken.
Ian ging über die Straße und überhörte die
Stimmen, die ihn beschimpften, ebenso gut wie das Hupen der Autos, die
seinetwegen anhalten mussten. Was sie nicht mussten. So ein kleiner Autounfall
würde ihn zwar verletzen und ein paar Tage Heilungszeit benötigen, aber für das
Auto wäre es wohl schlimmer als für ihn. Zu schade, dass er sich nicht die Zeit
nehmen wollte, um ernsthaft einen zu provozieren. Menschen bremsten, wenn
jemand auf der Straße war, das wusste er. Weniger aus Angst um die fremde
Gesundheit, als viel mehr aus Sorge um die eigenen Finanzen. Wen kümmerte schon
ein Leben, wenn der Wagen in die Reparatur musste? Da konnten Menschen so viel
Mitleid heucheln wie sie wollten, am Ende waren sie auch nur selbstsüchtige
Geschöpfe. Ian gefiel der Gedanke, ein rachsüchtiges Unfallopfer zu mimen, aber
dafür reichte seine Zeit wirklich nicht. Besonders nicht, wenn er seine Beute
abgeliefert und die Belohnung erhalten hatte. Die hoffentlich groß ausfiel und
somit gefeiert werden musste.
Bin begeistert! Ich freu mich so endlich wieder was von dir zu lesen Ganz besonders der erste Text hat es mir total angetan. Ich hätte am liebsten weitergelesen. :'D
AntwortenLöschenIch hoffe, da kommt bald noch mehr! :3
Ich habe mich ehrlich ein wenig gewundert, wie gut er eigentlich geworden ist. Ich hatte ihn deutlich schlechter in Erinnerung, das hat mich schon positiv überrascht. xD Gerne hätte ich weitergeschrieben, aber da er schon über ein halbes Jahr alt ist, war ich mir nicht sicher, in welcher Stimmung ich ihn verfasst habe - und bevor ich das zerstöre, was schon dort steht, bin ich lieber auf Nummer sicher gegangen.
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