Es war nicht mehr als eine Verkettung von Zufällen, die
dafür gesorgt hatte, dass Fletch sich an diesem Strand aufhielt. Der Streit mit
Jocelyn, die richtungsblinde Fahrt, immer der Nase nach. Ein Schild mit der
Aufschrift „Irma’s“ hatte seine Aufmerksamkeit erregt, sodass er nun dort
gastierte. Es gab keine Irma, es hatte sie auch nie gegeben, aber Mrs Landon
mochte den Namen, also hatte sie ihr Gasthaus so genannt. Es war ein nettes
Häuschen, das seine besten Tage deutlich hinter sich hatte. Für Fletch war es
gerade perfekt. Niemand, der ihn kannte, würde erwarten, dass er sich dort
aufhielt, fernab der Zivilisation oder eines schnellen Internetanschlusses. Er
bekam keine Mails, keine Anrufe, ja, nicht einmal die Zeitung las er. Das war
fast wie Urlaub. Eine Entspannung so tief, dass er sofort wieder an Jocelyn
denken musste, die ihm immer wieder vorwarf, er könne nicht abschalten, stehe
immer unter Strom. Jetzt nicht mehr.
Er ging im Regen den Pfad am Strand entlang, der zu einer
kleinen Bucht führte, die wohl besonders bei Pärchen beliebt war. Jedenfalls
bei gutem Wetter. Die Sonne ging zwar gerade erst unter, doch der graue Himmel
sorgte dafür, dass man lieber trüben Gedanken nachhing, als mit seiner
Geliebten einen ungestörten Moment zu verbringen.
Fletch schaute hinaus aufs Meer, während der Wind durch
seine Jacke drang. Die Wellen waren viel höher als in den vergangenen Tagen und
verursachten ein Tosen, das bestimmt jedem Liebenden die Stimmung verdarb. Das
war auch gut so, denn er wollte ungestört bleiben, damit er sich überlegen
konnte, wie alles weitergehen sollte.
Er musste zur Arbeit zurückkehren, das war wichtig, damit
er überhaupt noch eine hatte. Manchmal arbeitete er hier an den paar Sachen,
die er sich mit nach Hause genommen hatte, aber ihm war klar, dass sich auf
seinem Schreibtisch inzwischen einiges ansammelte. Sein Chef tobte
wahrscheinlich, weil er sich nicht abgemeldet hatte.
Ein Fuß vor den anderen, nicht an die Arbeit denken,
nicht an sein wahres Leben denken. Er könnte sich abseilen, irgendwie kam er
schon durch, das war als Jugendlicher sein großes Talent gewesen. Dann hatte er
sich in die Arbeit gestürzt, um seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. Es
interessiert weniger Leute, wer du einmal warst, wenn du als Zahnrädchen gut
funktionierst. Aber die Vergangenheit ließ sich nicht so einfach abschütteln,
nein, sie kam immer wieder zu ihm zurück. So hatte doch der Streit mit Jocelyn
erst angefangen. Und er hatte, ganz wie in alten Zeiten, nicht den Schneid besessen,
sich damit auseinanderzusetzen, sondern war weggelaufen. Er seufzte, blieb
stehen. Diese Erkenntnis hatte er doch so gut von sich ferngehalten, damit er
nicht wieder Rechtfertigungen in seinem Kopf zusammensetzte, die nichts besser
machten.
Die Bucht sah genauso aus wie in den letzten Tagen.
Fletch konnte sich gut vorstellen, dass dies ein Ort für Verliebte war, die ein
wenig ungestört sein wollten. Er hatte jedoch anderes vor. Auf einem Stein
platzierte er sein Handtuch, das er mit einem anderen Stein beschwerte, damit es
nicht vom Wind davongerissen wurde. Seine Jacke und sein Hemd legte er mit dazu
und ließ die Kühle erst einmal auf sich wirken. Ehe er aus dem Wasser zurück
war, wäre alles durchnässt, eigentlich hätte er sich das Handtuch auch sparen
können. Langsam zog er die Schuhe aus, fühlte den klammen Sand unter seinen
Füßen und ging auf das Wasser zu.
Er war ein guter Schwimmer, ein verdammt guter sogar. Schwimmen
hatte ihn immer beruhigt, wenn er besonders schlimme Phasen durchgemacht hatte.
Es hatte auch weder seiner Konstitution noch seinem Aussehen geschadet, eine
gewisse Zeit pro Woche mit Wassersport oder anderen Sportarten zu verbringen.
Als er den ersten Fuß ins kühle Nass stellte, zog die
Kälte wie ein Blitz durch seinen Körper. Im Meer zu schwimmen, das war schon
immer etwas anderes gewesen als ein Hallenbad. Unberechenbarer. Unmittelbarer.
Dort war man der Natur ausgesetzt und somit fast vollkommen hilflos. Vielleicht
war er deswegen unterbewusst genau an diesen Ort gefahren, obwohl er sich
einredete, er habe kein Ziel vor Augen gehabt. Nur glaubte er weder an Zufälle
noch an Schicksal. Eigentlich glaubte er an… nichts.
Bei diesem Gedanken schluckte er trocken und ging weiter
ins Wasser, bis zu den Knien. Das Meer peitschte gegen ihn, durchnässte schnell
den Rest seiner Kleidung, so spärlich der auch war. Er konnte die Kraft fühlen,
die rohe Gewalt, die diesen Wellen zugrunde lag. Er wollte sie bekämpfen, sie
sich zu eigen machen und somit den Kopf wieder frei kriegen.
Fletch atmete die salzige Luft tief ein und wollte gerade
tiefer ins Wasser gehen, als er aus den Augenwinkeln etwas sah, das dort nicht
sein sollte. Sofort drehte er den Kopf und entdeckte einen Mann, der reglos im
Wasser lag. Er zwang seinen Blick in die andere Richtung. Das ging ihn nichts
an, das war nicht sein Problem. Das war bestimmt auch nur eine Einbildung von
ihm, denn es war doch eben noch niemand dort gewesen. Oder?
Sein Gewissen gewann gegen seinen Kopf, ließ ihn zu der Gestalt
laufen.
„Hey“, rief er, als er bei dem Mann ankam, „alles okay
bei dir?“
Er kniete sich ins Wasser und klopfte dem Fremden auf die
Wange, sodass er das Gesicht verzog. Gut, er reagierte noch, das war doch
etwas, womit er umgehen konnte.
„Was ist passiert? Kannst du mich hören?“
Der Mann öffnete die Augen, sie fielen ihm wieder zu.
Doch dann ging ein Ruck durch seinen Körper. Fletch wich ein wenig zurück, als
der Mann ihn plötzlich erschrocken anstarrte und sich viel zu schnell hinsetzte.
Da war doch etwas nicht ganz richtig.
„Alles okay?“, fragte er so leise, dass er befürchtete,
gegen den Wind und die Wellen nicht anzukommen.
„Oh nein. Oh nein, oh nein. Ich wollte nicht… du solltest
mich nicht sehen! Ich wollte dich doch nur beobachten, ich…“
„Mich beobachten?“ Fletch konnte den Unglauben nicht aus
seiner Stimme halten, als er den Mann verwirrt anschaute. Er war etwas jünger
als er selbst, hatte ein schmales Gesicht mit wildem braunem Haar und einen
fast jungenhaften Oberkörper. „Und für solche… Vorhaben stürzt du dich in die
Fluten? Du siehst nicht wie ein Schwimmer aus, du hättest draufgehen können,
nur weil du mich… beobachten“ – Ekel in
seiner Stimme – „wolltest.“
„Bitte vergiss, dass du mich gesehen hast. Bitte! Wenn
die anderen das erfahren, dann sind wir beide nicht sicher vor ihnen.“
Verrückt noch dazu. Von einem Kopfschütteln begleitet
stand Fletch auf. Was auch immer das Problem dieses Mannes war, es war nicht
das seine. Und damit war sein Plan, in aller Ruhe schwimmen zu gehen, auch dahin.
Aber ehe er verschwinden konnte, griff eine Hand nach seinem Knöchel.
Widerwillig schaute Fletch den Mann an.
„Was willst du noch? Es geht dir doch gut genug, dass du
alleine verschwinden kannst, oder?“
Große helle Augen schauten ihn irritiert an, dann auf die
Hand an seinem Knöchel. Das war wohl ein Impuls gewesen, den sich der Mann
selbst nicht erklären konnte. Seufzend hockte Fletch sich wieder hin und berührte
ihn sanft an der Schulter. Seine Haut war kalt, zu kalt. Er müsste halb erfroren
sein, doch da saß er vor ihm, relativ munter.
„Fürchtest du dich gar nicht vor mir?“, fragte der Mann
mit seiner hellen Stimme.
„Sollte ich?“
„Na ja“, der Mann sagte nichts weiter, sondern schaute zu
seinen Beinen.
Fletch tat es ihm gleich und wich unwillkürlich einen
Schritt zurück, fiel auf den Hosenboden. Wo Beine sein sollten, verbarg das
Wasser etwas anderes, das aussah wie eine Flosse, was aber völlig unmöglich
war. So etwas gab es höchstens im Märchen. Dennoch entfernte sich Fletch weiter
von dem Fremden, den Blick starr auf die Flosse gerichtet, die nichts anderes als
eine Prothese sein konnte. Er hatte es nicht so mit dem Unmöglichen. Er konnte
ja nicht einmal Gruselfilme sehen, weil sie jeglicher Logik entbehrten.
„Bleib hier. Ich meine… es ist besser, wenn du gehst, ich
hätte dich nie treffen sollen. Ich-“
„Was bist du?“
Der Mann, das Wesen kam hinterher, zog sich mit den Armen
näher an ihn heran. Fletch schaute wie erstarrt zu, fühlte schließlich den
schmalen Körper, der seinen dazu brachte, sich ins flache Wasser zu legen.
„Ich bin jemand, der nur mit Menschen in Kontakt treten
sollte, um sie zu töten“, sagte der Mann, als er schließlich vollständig auf
Fletch lag und ihm traurig in die Augen sah. „Aber wie könnte ich das tun, wo
du doch so mit dem Wasser verbunden bist?“
„Woher…“ Nein, er würde nicht fragen, woher dieses Wesen
das wusste. Er würde verschwinden und diesen ganzen Nachmittag vergessen. Es
gab Dinge, die er sehr gut vergessen konnte, das war gar kein Problem für ihn.
Aber er konnte nicht, solange ihn diese grünen Augen so anschauten.
„Du bist so warm. Seid ihr alle so warm?“, fragte das
Wesen dicht an Fletchs Ohr.
„Ja.“
Die Flosse bewegte sich leicht. „Das liegt daran, dass
ihr warme Herzen habt, oder?“
„Es liegt daran, dass unsere Organe bei geringerer oder
höherer Temperatur nicht richtig arbeiten können.“
„Hmm…“
Vorsichtig legte Fletch seine Arme um das Wesen, obwohl
er das nicht wollte. Oder? Es war alles so verwirrend, dass er nicht mehr
wusste, wo ihm der Kopf stand.
„Hör mal“, sagte er, „wie wäre es, wenn wir uns morgen
wieder hier treffen? Ich muss über das hier nachdenken. Ich brauche Zeit. Ich-“
Er plapperte, weil nichts an dieser Situation Sinn ergab.
Aber das Wesen schaute ihm wieder in die Augen, diesmal
mit einem Lächeln im Gesicht, bei dem zu sehen war, dass es zu spitze Zähne für
einen Menschen hatte.
„Natürlich. Ich muss nur vorsichtig sein, damit die
anderen es nicht mitkriegen.“
„Ich verstehe.“ Nein, Fletch verstand nicht, am wenigsten,
warum er diesen Vorschlag gemacht hatte. Dennoch einigten sie sich auf ein
weiteres Treffen und dann trug Fletch das Wesen zurück ins tiefere Wasser, wo
es sich frei bewegen konnte. Es winkte zum Abschied und verschwand dann in den
tosenden Wellen, viel zu flink für einen schmalen Mann. Aber es war ja auch
kein Mann gewesen, sondern- Fletch rieb sich die Schläfen. Eine Einbildung.
Eine Reaktion seines Körpers auf den Mangel an Arbeit, nichts anderes. Er würde
zurückgehen und eine lange, heiße Dusche nehmen. Dann würde er schon wieder
klar denken können. Bestimmt.
Die erste Idee zu diesem Ausschnitt ist nur zwei A5 Seiten lang und befindet sich seit letzten Mai in einem meiner Blöcke. Der Mermay hatte mich dazu inspiriert, obwohl ich zugeben muss, dass die erste Version ein wenig anders war.
Wow, es ist ziemlich interessant mal sowas anderes von dir zu lesen! :D
AntwortenLöschenDu machst wie immer neugierig auf mehr und auf die Hintergrundgeschichte deiner Charaktere.
Die Einleitung ist grandios. Ich bin immer wieder überwältigt von deinem Geschick mit Worten umzugehen. Ich kann mir diesen Ausschnitt genauso gut als erste Seiten eines Buches vorstellen, das ich in der Buchhandlung zufällig aus einem Regal gezogen habe und Probe lese - und genauso gut kann ich mir wirklich vorstellen, eines Tages wirklich eines deiner Bücher aus einem Regal einer Buchhandlung zu ziehen.
Ob du die Themen nur der Reihe nach abarbeitest oder nicht, ist doch unwichtig. Ich finde es wunderbar, dass du nicht aufgibst und dich immer wieder mit so unterschiedlichen Themen befasst und dir etwas dazu ausdenkst.
<3 <3 <3
LöschenDanke für deinen lieben Kommentar. Ich bin auch immer neugierig, was die Charas so erlebt haben, ehe es zu dem Moment kam, den ich beschreibe, aber... nun, sie sind Produkte des Moments. Leider.