Mit dem Mittelfinger der rechten Hand schob Evelyn ihre
Brille zum tausendsten Mal an diesem Tag wieder an die richtige Stelle. Es war
eine unterbewusste Geste, die ihr sagen könnte, dass sie eigentlich dringend
jemanden aufsuchen sollte, der ihr Nasenfahrrad wieder richtete. Aber dafür
hatte sie wohl keine Zeit, es gab wichtigere Dinge, die getan werden mussten.
Rob musste sich dazu zwingen, den Blick von ihr zu wenden
und sich auf seinen Teil der Arbeit konzentrieren. Vor etwa zwei Jahren hatte
er sie zum ersten Mal in einem anderen Teil der Bibliothek getroffen und war
seitdem ein klein wenig – nein, er war nicht verliebt, er war nur hingerissen
von ihr. Ihr Aussehen war außergewöhnlich, was ihm auch jeder bestätigte. Ihr
herzförmiges Gesicht war ebenmäßig, die Haut so hell, dass sie beinahe
zerbrechlich wirkte. Die Haare hatte sie mittels Magie rosa eingefärbt, was ihm
immer noch imponierte, da sich niemand sonst traute, dies zu tun. Einzig ihre
eisblauen Augen waren ein wenig zu klein, was man jedoch nur sah, wenn sie ihre
schwarze Brille mit den dicken Gläsern abnahm. Es kümmerte sie wenig, was die
anderen von ihr sagten, oder was in ihrem Buch stand. Fast jeder sprach
gelegentlich darüber oder deutete an, er täte es gerne, nur sie nicht, weil das
keinen Sinn machte. Es war ihr gleichgültig, wer sie einst gewesen war, denn
für sie zählte nur das Jetzt. Ein Jetzt, in dem Rob gerne Dinge mit ihr tun
würde, denen sie nicht einmal andeutungsweise zugestimmt hatte. Aber darüber
durfte er nicht zu oft nachdenken, das machte ihn nur verrückt.
Evelyn seufzte, nahm ihre Brille ab und rieb sich die
kleinen Augen. „Es ist doch hoffnungslos“, grummelte sie, „wir wissen zwar,
dass eines der Bücher fehlt, aber wir haben keinen Hinweis darauf, wer es
genommen hat! Bei allem, was wir wissen, könnte es jeder gewesen sein.
Vielleicht sogar Elaine.“
Vor zwei Tagen hatte Elaine in der Renaissance-Abteilung
das Fehlen eines Buches bemerkt, ohne den kleinsten Hinweis zu dessen Verbleib.
Ein jeder von ihnen war dazu befragt worden, sämtliche Zimmer waren durchsucht
worden. Evelyn sah sich seither die Bilder an, die von den Schutzzaubern
aufgezeichnet wurden. Nichts hatte bisher zu Ergebnissen geführt.
„Es war sicher nicht Elaine, sonst hätte sie es doch
niemandem erzählt.“
„Oder genau das ist die Strategie.“
Rob zog die Augenbrauen zusammen und beobachtete Evelyn
dabei, wie sie ihre Brille wieder aufsetzte und für ihn ein müdes Lächeln
auflegte.
„Ich glaube ja auch nicht, dass sie das Buch genommen
hat, dafür hat sie gar nicht genügend kriminelle Energie“, sagte Evelyn, ehe
sie sich zurücklehnte und sich über den Nacken rieb. „Die Bilder machen auch
keinen Sinn. Das Buch ist die ganz Zeit da, bis Elaine dazu kommt. Als hätte
jemand den Zauber manipuliert.“
Rob hielt sich an der Tischkante fest. „Wissen wir denn,
welche Seele in diesem Buch gesteckt hat?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Nein, weil inzwischen
viele Bücher an den falschen Orten gefunden wurden. Wir wissen nicht, wer fehlt
und warum er oder sie fehlt. Es ist alles merkwürdig.“
In der langen Geschichte der Bibliothek war es noch nie
vorgekommen, dass ein Buch verschwunden war, weil das unmöglich sein sollte.
Dieses Ereignis hatte ihnen das Gegenteil bewiesen.
Das größte Rätsel blieb, wer in die Bibliothek eingedrungen
war oder ob der Dieb einer der Mitarbeiter war. Dann jedoch hätte man doch
irgendwo einen Hinweis auf den Verbleib des Buches finden müssen, schließlich
konnte man nur zu bestimmten Anlässen und mit Erlaubnis aus der Bibliothek
hinaus. Jedenfalls sollte das so sein. Die Schutzzauber sollten auch so
gestaltet sein, dass niemand sie manipulieren konnte. Eigentlich, müsste,
sollte – das führte doch zu nichts.
„Weißt du, wir wissen nur, dass es niemand von der Liste
ist – obwohl es lang genug gedauert hat, die zu überprüfen.“
Einerseits war es natürlich gut, dass keine große
Persönlichkeit fehlte, andererseits machte das die Suche schwerer. Hätte der
Dieb sich George Washington geschnappt, wäre das zumindest ein Anhaltspunkt
gewesen. Aber soweit Rob wusste, standen alle Prominenten an ihrem angedachten
Platz im Regal, egal ob sie großherziger Herrscher oder herzloser Tyrann
gewesen waren. In den Büchern waren sie alle gleich. Jede Seele war unschuldig
und erhielt mehrere Chancen auf der Erde.
„Hast du eine Idee, wie wir dahinter kommen können, wer
mitgenommen wurde?“
Evelyn verzog kurz das Gesicht, wobei sie einen
niedlichen Schmollmund machte. „Ich bin nicht verantwortlich für die
Bibliothek, das vergisst du immer. Mich interessiert auch fast mehr, warum dieses
Buch genommen wurde. Sind es persönliche Gründe? Ist es ein Streich? Warum
jemand Unbekanntes, wenn man da Vinci nehmen könnte oder Einstein? Hat die
Seele andere Bücher, oder ist es das einzige? Und wie wurde der Schutzzauber
beeinflusst?!“ Sie machte eine große Geste, ehe sie die Hände auf den Tisch
fallen ließ. Am kurzen Zucken ihres Mundwinkels erkannte er, dass es ihr wohl
weh getan hatte. „Es gibt zu viele Fragen, die noch geklärt werden müssen.“
„Aber?“
Die eisblauen Augen blickten ihn resigniert an. „Dieses
Rätsel zu lösen, ist nicht unsere Sache. Wir sind nur Mitarbeiter, die ihrer
Arbeit nachgehen müssen, damit hier nicht noch mehr Schaden entsteht.“
Als Rob antworten wollte, hörten sie von irgendwo
außerhalb des Raumes einen lauten Rums, bei dem der Boden unter ihren Füßen
wackelte. Rob schaute zur Tür, dann zu Evelyn, die sich an der Tischkante
festklammerte.
„Was war das?“, fragte er leise.
Sie sprang sofort auf. „Lass uns nachsehen.“
Auf dem Weg zur Quelle des Geräuschs stießen einige andere
Mitarbeiter der Bibliothek zu ihnen, die alle gleichermaßen neugierig und
ängstlich dreinschauten. Auch Elaine war unter ihnen, doch Rob machte keine
Anstalten zu grüßen, weil er zu sehr von Evelyns Hand abgelenkt war, die seinen
Ärmel hielt. Sie wirkte irritiert, aber auch in einer Weise erregt, die mehr
für die Lust auf ein Abenteuer als für Furcht sprach. Evelyn war wirklich schon
immer außergewöhnlich gewesen.
Der Pulk kam in der Renaissance Abteilung an und blieb
ruckartig stehen.
„Was ist da? Ich kann nichts sehen!“ Evelyn streckte
sich, doch sie war einfach kleiner als die meisten ihrer Kollegen, die ihr den
Weg verstellten. Rob hingegen sah das ganze Ausmaß.
Das vorderste Regal war gekippt, alle Bücher lagen davor
auf dem Boden, Seite aufgeschlagen und zerknickt. Das war ein Schaden, der
schnell behoben werden musste, da die Seelen sonst Schaden nehmen konnten.
„Jetzt sag doch was!“, drängte Evelyn.
Wow!
AntwortenLöschenIch finde des schön, dass du noch mal mit dieser Geschichte weitergeschrieben hast, da mir das Setting und die Idee wahnsinnig gut gefallen!
Ich finde es immer wieder großartig, wie viel Leben du deinen Charakteren selbst in kurzen Texten und Auszügen einhauchen kannst und bewundere dein Können Spannung aufzubauen.