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[Überblick]

Ich fand, es ist mal an der Zeit, ein wenig Ordnung in die Challenge zu bringen. Immerhin ist es auch für mich schwierig geworden, immer die...

15.08.2019

[45 Last Hope]

Großer Trommelwirbel!
Ich habe es tatsächlich geschafft, wieder etwas zu schreiben. Auf mehrere Wochen verteilt, weil die Inspiration einfach fehlt, aber es ist dennoch vollbracht.





Niemand konnte Elrica sagen, wie lange sie es noch durchhalten würden. Einen Monat vielleicht. Oder auch nur eine Woche. Dass ihnen niemand half, war zu gleichen Teilen verständlich wie selbstverschuldet. Sie wollte keine Almosen von ihren Nachbarn erhalten, das ließ sie jeden wissen. Wenn es ihr nicht gelang, ihre Familie mit den Mitteln, die sie hatte, am Leben zu halten, dann sollte es einfach so sein. Natürlich wusste sie auch, dass Bernie von jedem der wenigen Besucher Essen zugesteckt bekam, und auch Mutter so reich beschenkt wurde, wie es eben möglich war in ihrer Gegend.
Es war nicht genug.
Elrica lehnte sich an die Wand des Stalls und atmete tief durch. Der Stumpf ihres linken Beins schmerzte, weil das Holzbein, das Rowan ihr angefertigt hatte, an einer Stelle nicht richtig saß. Aber das hatten sie schon einige Male ohne Erfolg korrigiert, also nahm sie es hin. Ihr blieb auch nichts anderes übrig. Vor Jahren hatte sie hingenommen, dass Vater gegangen war und sie zurückgelassen hatte. Mit einem großen Hof, den Mutter kaum alleine bewirtschaften konnte. Dann hatte sie zähneknirschend hingenommen, dass ein gewisser Christopher Pierce sich in den Kopf gesetzt hatte, sie zu einem Testobjekt zu machen. Nur so war es ihr immer wieder möglich gewesen, ihn für ihre Ziele zu nutzen. Und nun war es an ihr, ihre Situation hinzunehmen.
Wenn Bernie ihr nur wieder helfen konnte, dann würde vieles einfacher werden. Noch war er kaum in der Lage das Haus zu verlassen, um in die Schule zu gehen. Meist musste Rowan ihn hinbringen und am Ende des Unterrichts wieder abholen, weil er sich sonst nicht traute, immerhin hatten die Mistkerle ihm damals auf dem Schulweg aufgelauert. Doch er machte Fortschritte und das war alles, was im Moment zählte. Auch Mutter erholte sich von dem Schock, beide Kinder verloren und gebrochen zurück bekommen zu haben.
Wenn die Besserung der beiden doch nur schneller vonstattenginge!
Elrica schlug mit der Faust gegen die Stallwand, was eine ihrer mageren Kühe zu einem verwunderten Muhen brachte.
All das Unglück der vergangenen Wochen war nur ihretwegen über ihre Familie gekommen! Wie sollte sie das nur jemals wieder ausgleichen?
Darum musste sie sich noch Gedanken machen, doch vorerst waren andere Sachen dringender. Wie ihr Magen, der ihr bereits meldete, dass es an der Zeit für eine kleine Stärkung war. Mutter würde es inzwischen zubereitet haben, also bewegte Elrica sich weitaus behäbiger als ihr lieb war aus dem Stall hinaus.
Auf dem Vorplatz des Hauses stand ein Pferd, das sie nicht kannte. Es gehörte niemandem aus der Nachbarschaft, dafür war es zu gut genährt und generell in zu tadelloser Form. Lustlos kaute es auf einigen Halmen herum, die ihm vor das Maul gekommen waren.
Vorsichtig ging Elrica daran vorbei und betrachtete es eingehender. Der Sattel gab nicht her, wer sein Besitzer sein mochte, ebenso wenig die Satteldecke. Irgendein reicher Fatzke bestimmt, der den Hof für eine viel zu niedrige Summe kaufen wollte, um sich daraus eine Art Lusthof zu machen.
Sofort beschleunigte Elrica mit geballter Hand und stieß die Haustür auf, als sie endlich dort angekommen war.
„Danke, kein Intere- Jeff?“
„Oh“, sagte Mutter, die ihrem Besuch gerade einen Becher Tee in die Hand gab, „ich dachte, Ihr Name ist Christopher?“
Da stand er, mitten in ihrer spärlichen Hütte, als hätte er sich in dem Moment hier materialisiert, in dem sie vorhin an ihn gedacht hatte: Christopher Pierce. Nicht uniformiert und auch nicht angezogen, wie sie es von einem Mann seines Standes erwartete. Seine braune Hose hatte eindeutig bessere Tage hinter sich und zusätzlich noch unter dem Ritt gelitten. Sein Oberhemd war aus kariertem Stoff und wirkte, als hätte er es von jemandem geliehen, der ein wenig stämmiger war als er. Einzig die Hosenträger passten.
„Mein Name ist Christopher, aber Ihre Tochter hat sich ein Pseudonym von mir angewöhnt.“
„Was suchst du hier?“, fragte Elrica unwirsch.
Wenn sie jemanden nicht noch einmal in dem Elend sehen wollte, das ihr Leben inzwischen war, dann ihn. Sie war ihm durchaus dankbar. Doch gerade deshalb sollte er ihr nicht noch einmal zu nahekommen. Sie würde nur noch mehr Schuld auf sich laden, weil es so bequem war, seine Hilfe anzunehmen.
Christopher drehte sich zu ihr herum. Unter seinen hellen Augen lagen tiefe Schatten, die von einer anstrengenden Reise, wenig Schlaf oder Krankheit zeugen mochten. Keine der Möglichkeiten gefiel ihr.
Mutter schaute zwischen ihnen hin und her und auch Bernie steckte neugierig die Nase aus seinem Zimmer.
„Ihre Majestät hat mir gesagt, ich solle sehen, wie es dir und deiner Familie geht. Sie sorgt sich um euer Wohlergehen.“
Noch bevor Elrica etwas sagen konnte, schritt Mutter ein: „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr es uns ehrt, dass Ihre Majestät uns geholfen hat und uns auch weiterhin nicht vergisst. Bitte richten Sie Ihr doch unseren herzlichsten Dank aus.“
Elrica seufzte und bewegte sich langsam zum Tisch, damit sie endlich ihren Stumpf ausruhen konnte, der bei jedem Schritt schmerzte. Das Mittagessen stand bereit, ein karges Mahl, wenn sie es mit dem verglich, was Christopher aus seinem Heim oder aus dem Leben als Palastwache kennen musste. Es gab Salzkartoffeln mit gebratenem Gemüse und einem kleinen Stück Fleisch für jeden von ihnen. Wenigstens passte ihr Geschirr zusammen, darauf hatte Mutter immer großen Wert gelegt.
„Wenn du schon hier bist“, sagte sie so beiläufig es ging, „die Reise war sicher lang, du kannst gerne mit uns essen, also, wenn du möchtest.“
Sein Blick wurde fragend, dann wandte er sich Mutter zu, die aufmunternd nickte. Sie freute sich wohl ehrlich über den Besuch eines der Männer, die ihr ihre Kinder zurückgebracht hatten. Elrica musste sich auf die Zunge beißen, um nicht zu sticheln und Mutter zu verraten, welcher Familie der Mann vor ihr angehörte.
„Wenn es nicht zu viele Umstände macht, nehme ich die Einladung gerne an.“
Bernie kam sofort mit einem vierten Stuhl für den Tisch herbei geschlichen, während Mutter einen weiteren Teller hinstellte und ihren Gast anwies, sich doch auf ihren Platz zu setzen, direkt gegenüber von Elrica.
Man konnte Christopher nicht ansehen, ob er nur aus Höflichkeit zum Essen blieb, oder ob er es gerne tat. Elrica jedenfalls wusste nicht recht, was sie von seinem Besuch halten sollte, zumal Königin Angelique ihr Anliegen auch per Brief hätte klären können. Warum dann den persönlichen Wachmann schicken? Es machte doch keinen Sinn.
Das Essen nahmen sie fast stumm zu sich, wie es bei ihnen üblich war. Es wurden zwar immer wieder Blicke auf ihren Gast geworfen, doch niemand brach das Schweigen für mehr als die Frage nach dem Salz oder ein wenig Butter. Nur Christopher ließ sich zu einigen Kommentaren hinreißen, die das Essen lobten, was Mutter mit einem Lächeln aufnahm. Wann hatte ihre Familie ihr Essen zuletzt gelobt? Elrica konnte sich kaum erinnern, es jemals getan zu haben.
Am Ende entschuldigte sich Mutter dafür, keinen Nachtisch anbieten zu können, woraufhin Christopher einen kleinen Beutel auf den Tisch legte.
„Es ist nicht viel, aber sie schmecken sehr gut.“
Noch ehe Bernie neugierig in den Beutel griff, wusste Elrica, dass darin die gleichen Toffees waren, wie sie bei ihrer ersten Begegnung mit Christopher bekommen hatte.
„Dein geheimes Laster?“
Er grinste sie an, wovon ihr die Wärme in die Wangen schoss. „Eines von ihnen.“
„Das müssen Sie doch nicht tun“, sagte Mutter, „wir sind Ihnen doch schon genug zu Dank verpflichtet, Mister, äh-“
„Pierce. Christopher Pierce.“
Mit einem Mal wurde es sehr still. Bernie nahm seine Hand aus dem Beutel hinaus und Mutter schaute ihren Gast an, als wäre ihm ein zweiter Kopf gewachsen.
„Doch nicht von den Pierce Werken?“, fragte sie vorsichtig.
„Von ebendiesen.“
„Eine sehr interessante Begebenheit, nicht wahr?“, fragte Elrica zu laut für ihre eigenen Ohren, um von der Situation abzulenken, „Es ist wirklich nett von dir, dass du persönlich nach uns schaust, obwohl du es nicht tun müsstest. Und jetzt würde ich sagen, du reitest ins Dorf zurück, um dir dort eine Unterkunft zu suchen. Ich begleite dich noch schnell hinaus.“
In ihrer Stimme lag genug Finalität, dass Christopher sich sofort von ihrer Familie verabschiedete und ihr hinterher aus dem kleinen Haus ging. Als die Tür sich schloss, schaute sie ihn mit zusammengezogenen Brauen an.
„Meine Familie hätte es nicht erfahren müssen.“
„Ich wollte nicht, dass dieses Geheimnis irgendwann gelüftet wird und dann die Beziehung zu deiner Familie belastet. Deshalb hielt ich es für angebracht-“
„Was meinst du mit 'irgendwann'? Du lebst im Palast und ich hier.“ Sie konnte den Schmerz in seinen Augen schon sehen, doch die nächsten Worte lagen ihr bereits auf der Zunge. „Wir werden uns sicher nicht so schnell wiedersehen, dass deine 'Beziehung' zu meiner Familie jemals aus mehr als diesem Treffen bestehen wird.“
Er trat einen Schritt zurück, sagte jedoch nichts. Das musste er auch gar nicht. Kein Lächeln lag auf seinem Gesicht, nicht einmal dieses leichte Schmunzeln, an das sie sich bereits gewöhnt hatte. Ihre Worte mussten ihn mehr verletzt haben, als beabsichtigt.
„Hör mal“, sagte sie versöhnlicher, „es ist doch einfach so, dass wir uns unter normalen Umständen niemals begegnet wären. Geh zurück zur Königin, sie braucht dich. Uns geht es doch gut.“
Er schüttelte den Kopf und strich ihr mit seiner Hand zärtlich über die Wange. „Rede dir das nicht selbst ein. Ihr seid alle so dünn geworden, seit ich zuletzt hier war.“
„Das geht dich nichts an. Uns geht es-“
„Nicht gut. Wenn ihr Hilfe braucht, sagt es mir doch. Ihre Majestät ist bereit, euch zu helfen.“
Elrica schob seine Hand weg. Mutter und Bernie würden darauf eingehen, weil sie nicht so stur waren wie sie selbst. Ihnen würde es nur Kopfschmerzen bereiten, dass die Königin ihnen ihre Hilfe anbot, mit der sie wenig anzufangen wussten. Angelique mochte ein großes Herz besitzen, so viel hatte auch Elrica inzwischen begriffen, doch in der Bevölkerung sah man davon zu wenig – oder genug, um es als Schwäche abzutun.
„Wir sind kein Projekt, mit dem ihr euch die Zeit vertreiben könnt. Oder um euer Gewissen zu beruhigen. Ich war doch nie etwas anderes für dich als jemand, an dem man mal zeigen kann, wie sehr sich die Reichen um die einfache Bevölkerung kümmern. Stoß dein Ego an jemand anderem gesund.“
Ihre Worte trafen ihn viel mehr, als sie erwartet hätte. Er wurde nicht einmal böse, wie damals als sie auf der Suche nach den Löffeln von König Germain I. gewesen war. Diesmal schaute er sie erst traurig an, ehe er mit einem leisen Seufzen den Kopf hängen ließ.
„Wenn das dein letztes Wort ist“, sagte er mehr zu sich als zu ihr. Er band sein Pferd los und schwang sich in den Sattel, während das Tier protestierend wieherte. „Vielleicht sehen wir uns ja irgendwann wieder.“
Elrica wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, also ließ sie ihn ziehen.
Sie wollte nicht, dass es ihr wehtat. Sie wollte nicht, dass es ihm wehtat. Aber als sie seiner kleiner werdenden Gestalt hinterher blickte, fühlte sie etwas in sich aufsteigen, das ihr nicht gefiel. Verlust. Angst. Trauer. Er war doch nur ein Pierce-Erbe. Er machte sich doch sicher insgeheim über sie und ihresgleichen lustig.
Hinter ihr öffnete sich die Haustür und Mutter kam zu ihr heraus. Die beiden Frauen standen eine lange Weile wortlos da, die Blicke auf den Weg gerichtet, den ihr unverhoffter Besuch gerade genommen hatte.
Vielleicht würden sie sich wiedersehen. Vielleicht würde Christopher sie nie wieder finden, weil sie schon bald vom Hof verschwinden mussten und dann ein Leben auf der Straße führen mussten. Eine verlassene Frau mit ihrer verkrüppelten Tochter und ihrem gebrochenen Sohn.
„Liebling“, sagte Mutter sanft, „er scheint dich zu mögen, dieser Christopher Pierce.“
„Wie-“
„Und so wie du gerade aussiehst, magst du ihn auch. Lass dir von ihm helfen, wenn es ihm möglich ist. Ich weiß, dass wir nicht mehr lange weitermachen können.“ Natürlich wusste Mutter es, doch Elrica schaute sie trotzdem ertappt an. „Wirf deinen Stolz weg. Lieber in seiner Schuld leben, als gar nicht zu leben.“
Sie reckte trotzig das Kinn vor, was deutlich beeindruckender ausgesehen hätte, würde es nicht beginnen zu zittern. Nicht weinen, nicht jetzt.
„Ich schulde ihm schon mein Leben und ebenso Bernies. Ich will mich ihm nicht völlig ausliefern.“
Mutter strich ihr zärtlich Haare aus der Stirn und lächelte sie an, ohne dass es ihre Augen ganz erreichte. Erst jetzt konnte Elrica erkennen, wie müde ihre Mutter aussah und wie ausgezehrt. Ihre Wangen waren eingefallen, die Haut unter den Augen dunkel vor Schlaflosigkeit. Auch sie war kurz davor an ihrer Lage zu zerbrechen.
„Dann werden wir kämpfen. Jeden Tag. Und du weißt so gut wie ich, dass keiner von uns diesen Kampf gewinnen kann.“
Mutter meinte das nicht böse, sie präsentierte nur einen Fakt, den Elrica sich nicht gänzlich eingestehen wollte. Sie hatte immer nur das Ende des Hofs im Kopf gehabt, doch dass damit auch ihr persönliches Ende verbunden sein konnte, wollte sie nicht richtig begreifen.
„Was soll ich denn tun?“, fragte sie verzweifelt und fühlte nun doch eine verräterische Träne auf ihrer Wange.
„Du kennst die Antwort.“

2 Kommentare:

  1. "Show, don't tell" - dein Schreibstil wird immer, immer besser. Ich bin immer wieder aufs Neue fasziniert wie viel besser es dir mit jedem neuen Text zu gelingen scheint, eine Szene zum Leben zu erwecken.

    Ich verstehe Elrica so gut! Aber Christopher ebenso. Und deswegen hätte ich Elrica am liebsten geschüttelt und ihr dasselbe geraten, wie ihre Mutter "Wirf deinen Stolz weg". Die Szene in der Küche war so rührend und die Erinnerung an ihre erste Begegnung mit den Toffees. Das hast du echt schön wieder aufgegriffen.

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    1. Manchmal macht Elrica mich völlig verrückt mit ihrem Verhalten, obwohl ich es auch verstehen kann. Ich channele bei den beiden wohl ein wenig Stolz & Vorurteil XD

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