Empfohlener Beitrag

[Überblick]

Ich fand, es ist mal an der Zeit, ein wenig Ordnung in die Challenge zu bringen. Immerhin ist es auch für mich schwierig geworden, immer die...

16.08.2018

[29 Falling]

Ich habe erst 'Failing' gelesen und mich so gefreut, dass ich sofort einen Text schreiben konnte, dass mir der Fehler erst später auffiel. Trotzdem ist das Thema ausnahmsweise sinnvoll eingeflossen. Hurra.




Mit dem Mittelfinger der rechten Hand schob Evelyn ihre Brille zum tausendsten Mal an diesem Tag wieder an die richtige Stelle. Es war eine unterbewusste Geste, die ihr sagen könnte, dass sie eigentlich dringend jemanden aufsuchen sollte, der ihr Nasenfahrrad wieder richtete. Aber dafür hatte sie wohl keine Zeit, es gab wichtigere Dinge, die getan werden mussten.
Rob musste sich dazu zwingen, den Blick von ihr zu wenden und sich auf seinen Teil der Arbeit konzentrieren. Vor etwa zwei Jahren hatte er sie zum ersten Mal in einem anderen Teil der Bibliothek getroffen und war seitdem ein klein wenig – nein, er war nicht verliebt, er war nur hingerissen von ihr. Ihr Aussehen war außergewöhnlich, was ihm auch jeder bestätigte. Ihr herzförmiges Gesicht war ebenmäßig, die Haut so hell, dass sie beinahe zerbrechlich wirkte. Die Haare hatte sie mittels Magie rosa eingefärbt, was ihm immer noch imponierte, da sich niemand sonst traute, dies zu tun. Einzig ihre eisblauen Augen waren ein wenig zu klein, was man jedoch nur sah, wenn sie ihre schwarze Brille mit den dicken Gläsern abnahm. Es kümmerte sie wenig, was die anderen von ihr sagten, oder was in ihrem Buch stand. Fast jeder sprach gelegentlich darüber oder deutete an, er täte es gerne, nur sie nicht, weil das keinen Sinn machte. Es war ihr gleichgültig, wer sie einst gewesen war, denn für sie zählte nur das Jetzt. Ein Jetzt, in dem Rob gerne Dinge mit ihr tun würde, denen sie nicht einmal andeutungsweise zugestimmt hatte. Aber darüber durfte er nicht zu oft nachdenken, das machte ihn nur verrückt.
Evelyn seufzte, nahm ihre Brille ab und rieb sich die kleinen Augen. „Es ist doch hoffnungslos“, grummelte sie, „wir wissen zwar, dass eines der Bücher fehlt, aber wir haben keinen Hinweis darauf, wer es genommen hat! Bei allem, was wir wissen, könnte es jeder gewesen sein. Vielleicht sogar Elaine.“
Vor zwei Tagen hatte Elaine in der Renaissance-Abteilung das Fehlen eines Buches bemerkt, ohne den kleinsten Hinweis zu dessen Verbleib. Ein jeder von ihnen war dazu befragt worden, sämtliche Zimmer waren durchsucht worden. Evelyn sah sich seither die Bilder an, die von den Schutzzaubern aufgezeichnet wurden. Nichts hatte bisher zu Ergebnissen geführt.
„Es war sicher nicht Elaine, sonst hätte sie es doch niemandem erzählt.“
„Oder genau das ist die Strategie.“
Rob zog die Augenbrauen zusammen und beobachtete Evelyn dabei, wie sie ihre Brille wieder aufsetzte und für ihn ein müdes Lächeln auflegte.
„Ich glaube ja auch nicht, dass sie das Buch genommen hat, dafür hat sie gar nicht genügend kriminelle Energie“, sagte Evelyn, ehe sie sich zurücklehnte und sich über den Nacken rieb. „Die Bilder machen auch keinen Sinn. Das Buch ist die ganz Zeit da, bis Elaine dazu kommt. Als hätte jemand den Zauber manipuliert.“
Rob hielt sich an der Tischkante fest. „Wissen wir denn, welche Seele in diesem Buch gesteckt hat?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Nein, weil inzwischen viele Bücher an den falschen Orten gefunden wurden. Wir wissen nicht, wer fehlt und warum er oder sie fehlt. Es ist alles merkwürdig.“
In der langen Geschichte der Bibliothek war es noch nie vorgekommen, dass ein Buch verschwunden war, weil das unmöglich sein sollte. Dieses Ereignis hatte ihnen das Gegenteil bewiesen.
Das größte Rätsel blieb, wer in die Bibliothek eingedrungen war oder ob der Dieb einer der Mitarbeiter war. Dann jedoch hätte man doch irgendwo einen Hinweis auf den Verbleib des Buches finden müssen, schließlich konnte man nur zu bestimmten Anlässen und mit Erlaubnis aus der Bibliothek hinaus. Jedenfalls sollte das so sein. Die Schutzzauber sollten auch so gestaltet sein, dass niemand sie manipulieren konnte. Eigentlich, müsste, sollte – das führte doch zu nichts.
„Weißt du, wir wissen nur, dass es niemand von der Liste ist – obwohl es lang genug gedauert hat, die zu überprüfen.“
Einerseits war es natürlich gut, dass keine große Persönlichkeit fehlte, andererseits machte das die Suche schwerer. Hätte der Dieb sich George Washington geschnappt, wäre das zumindest ein Anhaltspunkt gewesen. Aber soweit Rob wusste, standen alle Prominenten an ihrem angedachten Platz im Regal, egal ob sie großherziger Herrscher oder herzloser Tyrann gewesen waren. In den Büchern waren sie alle gleich. Jede Seele war unschuldig und erhielt mehrere Chancen auf der Erde.
„Hast du eine Idee, wie wir dahinter kommen können, wer mitgenommen wurde?“
Evelyn verzog kurz das Gesicht, wobei sie einen niedlichen Schmollmund machte. „Ich bin nicht verantwortlich für die Bibliothek, das vergisst du immer. Mich interessiert auch fast mehr, warum dieses Buch genommen wurde. Sind es persönliche Gründe? Ist es ein Streich? Warum jemand Unbekanntes, wenn man da Vinci nehmen könnte oder Einstein? Hat die Seele andere Bücher, oder ist es das einzige? Und wie wurde der Schutzzauber beeinflusst?!“ Sie machte eine große Geste, ehe sie die Hände auf den Tisch fallen ließ. Am kurzen Zucken ihres Mundwinkels erkannte er, dass es ihr wohl weh getan hatte. „Es gibt zu viele Fragen, die noch geklärt werden müssen.“
„Aber?“
Die eisblauen Augen blickten ihn resigniert an. „Dieses Rätsel zu lösen, ist nicht unsere Sache. Wir sind nur Mitarbeiter, die ihrer Arbeit nachgehen müssen, damit hier nicht noch mehr Schaden entsteht.“
Als Rob antworten wollte, hörten sie von irgendwo außerhalb des Raumes einen lauten Rums, bei dem der Boden unter ihren Füßen wackelte. Rob schaute zur Tür, dann zu Evelyn, die sich an der Tischkante festklammerte.
„Was war das?“, fragte er leise.
Sie sprang sofort auf. „Lass uns nachsehen.“
Auf dem Weg zur Quelle des Geräuschs stießen einige andere Mitarbeiter der Bibliothek zu ihnen, die alle gleichermaßen neugierig und ängstlich dreinschauten. Auch Elaine war unter ihnen, doch Rob machte keine Anstalten zu grüßen, weil er zu sehr von Evelyns Hand abgelenkt war, die seinen Ärmel hielt. Sie wirkte irritiert, aber auch in einer Weise erregt, die mehr für die Lust auf ein Abenteuer als für Furcht sprach. Evelyn war wirklich schon immer außergewöhnlich gewesen.
Der Pulk kam in der Renaissance Abteilung an und blieb ruckartig stehen.
„Was ist da? Ich kann nichts sehen!“ Evelyn streckte sich, doch sie war einfach kleiner als die meisten ihrer Kollegen, die ihr den Weg verstellten. Rob hingegen sah das ganze Ausmaß.
Das vorderste Regal war gekippt, alle Bücher lagen davor auf dem Boden, Seite aufgeschlagen und zerknickt. Das war ein Schaden, der schnell behoben werden musste, da die Seelen sonst Schaden nehmen konnten.
„Jetzt sag doch was!“, drängte Evelyn.

1 Kommentar:

  1. Wow!

    Ich finde des schön, dass du noch mal mit dieser Geschichte weitergeschrieben hast, da mir das Setting und die Idee wahnsinnig gut gefallen!

    Ich finde es immer wieder großartig, wie viel Leben du deinen Charakteren selbst in kurzen Texten und Auszügen einhauchen kannst und bewundere dein Können Spannung aufzubauen.

    AntwortenLöschen