In The Night
Niemand ging in der Nacht hinaus.
Es war ein ungeschriebenes Gesetz, das
niemals überschritten wurde, weil jeder genau wusste, was einen in
der Dunkelheit erwartete.
Die Wesen.
Cynthia kannte alle Geschichten, konnte
sie zum Großteil wiedergeben seit sie zwei Jahre alt war. Nur die
Mutigsten wurden dazu auserwählt, in der Nacht Patrouillen zu
laufen, um zu verhindern, dass die Wesen in Häuser eindrangen.
Manchmal las man in den Zeitungen, dass es dennoch geschah, weil die
Wächter einfach einen Moment zu spät dran waren. Der Ausgang war
jedes Mal so blutig, dass Cynthia gar nicht zu genau darüber
nachdenken mochte, was genau geschehen war.
Bei ihr Zuhause waren alle
Sicherheitsvorkehrungen von Mutter getroffen worden und wurden
allabendlich kontrolliert, ehe draußen die Sonne richtig
untergegangen war. Die verriegelten Türen wurden von Talismanen
geschützt, deren Schutz alles halbe Jahr von einem Priester erneuert
wurde. Fenster wurden nachts nie mehr als einen Spalt geöffnet, weil
es sonst als Einladung empfunden werden konnte.
Wie die Wesen aussahen, wusste Cynthia
nicht, weil die Geschichten sich dazu unterschiedlich äußerten,
aber sie hatte eine recht deutliche Vorstellung aus den verschiedenen
Bildern bekommen. Groß und furchteinflößend mit gefletschten
Zähnen und zotteligem Fell in undefinierbarer Farbe. Ihr Atem roch
nach Blut und Tod, ihre Zähne waren unnatürlich groß. Mehr
Raubtier als alles andere und dennoch mit genug Verstand, um deutlich
gefährlicher zu sein, als ein Rudel Wölfe es jemals sein könnte.
Sie waren menschlichen Ursprungs, das machte sie so gefährlich und
unberechenbar. Es wurde gesagt, sie hätten etwas getan, um den Zorn
der Götter auf sich zu ziehen und wären deswegen in ihre unsägliche
Gestalt gezwungen wurden, die nur ein Leben unter ihresgleichen
möglich machte.
Deshalb betete Cynthia, es möge ihr
gelingen, den Wesen aus dem Weg zu gehen, bis sie zuhause ankam. Sie
hatte den Abend und die Nacht eigentlich bei Sara bleiben wollen,
sich jedoch wegen einer Kleinigkeit so sehr mit ihr in die Haare
gekriegt, dass sie lieber in die Nacht verschwunden war, als noch
eine Sekunde länger zu bleiben. Sie wusste nicht einmal mehr, was zu
ihrem Zwist geführt hatte, doch nun war sie draußen in der
Dunkelheit und erwartete hinter jedem Geräusch eines der Wesen, das
sie sogleich zerfleischen würde. Ihr einziger Schutz war das
Amulett, das sie stets bei sich trug, falls etwas Unvorhergesehenes
sie dazu zwang, ein schützendes Gebäude zu verlassen. Eigentlich
hatte sie an Brände gedacht und nicht an einen Streit über
Nichtigkeiten.
Eiligen Schrittes ging sie die
mondhelle Straße entlang und versuchte sich nicht selbst verrückt
zu machen. Was sich als schwer erwies, wenn man überall Geräusche
hörte, die man nicht recht zuordnen konnte. Etwas knackte hier,
etwas raschelte da. Bestimmt nur Tiere, die im Schutz der Dunkelheit
aus ihren Verstecken kamen, um Nahrung zu suchen. Vor den Wesen waren
sie sicher, weil sie sich kaum als Beute lohnten, dafür waren sie
einfach zu klein. Die Haare in Cynthias Nacken stellten sich auf,
aber sie wusste, dass sie nicht mehr lange brauchte, um ihr Haus
betreten zu können, ihr war ja beinahe, als könne sie es schon
sehen.
„Wohin des Weges?“, fragte eine
tiefe Stimme hinter ihr, zu der sie sich sogleich umdrehte.
„Ich-“, piepste sie, doch die Worte
blieben ihr im Halse stecken. Der Mann, der so plötzlich auf sich
aufmerksam gemacht hatte, trug dunkle Kleidung, deren Farbe sie im
spärlichen Mondlicht nicht genau ausmachen konnte. Viel
interessanter war ohnehin, dass die Hose an mehreren Stellen
zerrissen war und von allerlei Nieten verziert wurde. Die Ärmel
seines Oberteils waren vielleicht ein wenig zu kurz. Er war groß und
beinahe von schlacksiger Gestalt, was sie am meisten irritierte.
Jemand wie er konnte doch kaum zu den Wächtern gehören, die einiges
an körperlicher Stärke benötigten, um gegen die Wesen bestehen zu
können.
„Ich habe dich doch nicht erschreckt,
oder?“
„Ein wenig schon.“
Der Mann lächelte ihr aufmunternd zu
und Cynthia fühlte wie ihr Puls schneller schlug. Er musste ein
Wächter sein, ansonsten wäre er doch jetzt nicht draußen. Aber sie
war auch keine Wächterin und trieb sich außerhalb eines Hauses
herum.
„Du brauchst keine Angst haben, nicht
vor mir und nicht vor der Nacht. Es ist alles in Ordnung.“
Eine unkonventionelle Auffassung der
Situation, die die Regierung einfach nicht unter Kontrolle bekam,
weil die Wesen, dumm wie sie waren, es irgendwie doch schafften, ihre
Zahlen ständig zu vergrößern.
„Ich möchte nur nach Hause, das ist
alles.“
Er schaute die Straße entlang, dann
wieder zu Cynthia. „Soll ich dich begleiten? In gebührlichen
Abstand, versteht sich ja von selbst. Dann musst du dich nicht mehr
fürchten.“
„Sind Sie ein Wächter?“, sprudelte
es da aus ihr hinaus, während sie vorsichtig nach ihrem Talisman
tastete, der an einer Kette um ihren Hals hing.
Sein Gesicht wurde ernster. „Nein.
Die brauchst du auch nicht, solange ich in deiner Nähe bin.“
Sie guckte den Mann zweifelnd an, weil
das kaum sein Ernst sein konnte. Doch als sie ihre Optionen im Kopf
durchging, erschien es ihr tatsächlich sicherer, jemanden bei sich
zu haben, selbst wenn sie ihn nicht kannte. Dennoch blieb eine Frage
offen.
„Wie können Sie sich so sicher sein,
dass uns nichts geschehen wird?“
Ein sanftes Lächeln schlich sich auf
sein Gesicht. „Weil es die Wesen nicht so gibt, wie die meisten
denken.“
Cynthia machte einen Schritt von ihm
Weg. „Das kann doch nicht Ihr Ernst sein?!“
Wer sollte sich denn die schrecklichen
Geschichten ausdenken? Und aus welchem Grund? Dieser Mann konnte sie
nur anlügen, also sollte sie ohne ihn nach Hause finden! Also ging
sie forschen Schrittes weiter, es war ja nicht mehr weit.
„Mädchen, warte doch!“, sagte er
ruhig und stand plötzlich schon wieder neben ihr. „Es gibt sie ja,
sie sind nur anders, als man dich – euch alle – glauben lässt.“
Sie blieb ruckartig stehen und stemmte
die Hände in die Hüften. „Und wie sollen sie sonst sein?“,
fragte sie mit zittriger Stimme, die ihre Gefühle verriet.
„Sieh mich an“, antwortete er
leise, während er sich zu ihrem Ohr vorbeugte, „ich bin einer der
Menschen der Nacht.“
Oh Mann! Du kannst doch an so einer Stelle nicht einfach aufhören! D:
AntwortenLöschenJetzt will ich unbedingt wissen, wie es weitergeht! :D
Die Spannung hast du jedenfalls toll aufgebaut. Ich hab eine Gänsehaut. :3
Muahahaha! >D
LöschenDieser Idee ist bestimmt fast zehn Jahre alt und wurde immer wieder in meinem Kopf hin und her geschoben, bis ich sie endlich zu Papier bringen konnte.
Vielleicht geht es ja mal weiter. <3