Oliver öffnete die Tür, wie er es unzählige Male in
seinem Leben gemacht hatte. Der Raum dahinter war ihm vertraut, so dass er ihn
nicht einmal sehen musste, um ihn beschreiben zu können. Die Wände waren mit
Bäumen bemalt, die aussahen, als würden sich ihre Blätter bewegen. Vielleicht
taten sie es wirklich. Auf dem Boden verdeckte eine Staubschicht die dunklen
Holzbohlen. Jedes Möbelstück gehörte einer anderen Stilrichtung an, doch jedes
war aus Holz. Unterschiedliche Hölzer, gewiss, aber dennoch Holz. Eine große
Wohnwand aus dunklem Mahagoni beherbergte keinen Fernseher, sondern unzählige
kleine Figuren aus Glas und Porzellan und Stein. Ein kleines Eichenschränkchen hingegen
wurde von Künstlerbedarf eingenommen, von Pinseln und Farben und Papier. Einzig
der alte Apothekerschrank wirkte aufgeräumt, nahezu klinisch rein. Nicht einmal
Staub hatte sich auf ihm abgesetzt, was überhaupt nicht sein konnte.
Und dort, in der Mitte des Raumes, stand sie: Unity. Ihre
Eltern hatten sehr lange überlegt, wie sie ihr erstes und einziges Kind nennen
sollten, also hatte der Name etwas Besonderes sein müssen. Unity hatte ihn nie gemocht,
aber auch keinen Spitznamen vorgezogen.
Das war jetzt egal. Sie stand, wo Oliver sie zurückgelassen
hatte. Eingefroren mitten im Satz, vielleicht sogar mitten im Wort, das wusste er
nicht mehr. Die letzten fünf Jahre hatte er versucht herauszufinden, was mit
ihr geschehen war. In dieser Zeit hatte sie sich kaum verändert.
Er trat näher an sie heran.
Seit er zuletzt hier gewesen war, hatte sie weiter an
Farbe eingebüßt, als würde sie langsam verschwinden. Ihre Haut war immer schon
blass gewesen, doch nun war sie im warmen Licht des endenden Tages fast
schneeweiß. Ihr Haar verlor seinen goldenen Schimmer. Und ihre Augen, die sie
seit fünf Jahren nicht geschlossen hatte, waren nicht mehr ozeanblau, sondern
eisblau.
Bei allem, was er über sie wusste, stand eine Fremde vor
ihm. Eine Tote.
Doch er wollte das nicht glauben, ehe er nicht wirklich
herausgefunden hatte, was mit ihr los war.
Hinter ihm schlurfte jemand in den Raum.
„Du solltest dir das nicht antun, Junge“, sagte Violet, Unitys
Großmutter.
„Aber ich werde sie zurückholen.“
Sie hatten dieses Gespräch schon unzählige Male geführt,
sodass es inzwischen mehr ein Ritual war, ein Spiel zwischen ihnen. Jeder wusste,
was der andere sagen würde.
Dass es keinen Sinn machte. Dass es nur wenige Wege gab,
jemanden mitten in seinem Leben gefrieren zu lassen. Dass sie es beide wussten,
aber keiner von ihnen bisher herausgefunden hatte, wer es auf diese Weise auf
Unity abgesehen hatte. Dass sie sie beide zurückhaben wollten.
„Entweder jemand nimmt sich ihre Zeit oder spielt mit
ihrer Seele, mehr Möglichkeiten gibt es nicht“, sagte Oliver.
„Keine, die wir kennen“, erwiderte Violet, die inzwischen
neben ihrer gefrorenen Enkeltochter stand.
Oliver erkannte wieder einmal, dass die beiden Frauen
sich mehr ähnelten, als der Generation, die zwischen ihnen lag. Beide hatten
die gleichen hohen Wangenknochen und kleinen Nasen. Ihre Haut war ähnlich hell –
nun, da musste die Erinnerung ein wenig nachhelfen – und auch der Blauton von
Violets Augen war Oliver schmerzlich vertraut. Doch während Violet ihr Haar
noch immer in einem langen Zopf trug, der ihr bis zu Hüfte reichte, wurde
Unitys Kopf von einem Pixiecut geziert, der ihre Augen noch mehr zur Geltung
brachte. Niemand hatte diese Frisur an ihr gemocht. Nur Oliver.
„Hör zu, Junge. Je mehr Zeit vergeht, desto
unwahrscheinlicher ist es, dass du sie jemals zurückbringen kannst. Ihr Körper
verfällt nicht, nicht auf die menschliche Art, aber es ist schwer, nach einem
so langen Zeitraum weiterzumachen, als wäre nichts gewesen. Ob nun mit ihrer
Zeit oder ihrer Seele gespeilt wird, ist da relativ unwichtig.“
Natürlich wusste er das und natürlich hatte sie ihm das bei
jedem seiner Besuche in den vergangenen fünf Jahren gesagt. Nur wurde die
Wahrheit mit jedem Monat, der verging, noch unausweichlicher.
Er konnte Unity nicht retten.
Mit einem Seufzen schaute er zu Boden. In seinen
Augenwinkeln glaubte er Bewegung an der Wand zu sehen. Ihm war, als könne er
die Blätter rascheln hören. Dieses Zimmer war schon immer von Magie
geschwängert gewesen, nur war er dafür erst jetzt richtig empfänglich.
„Ich werde sie nicht aufgeben, ohne es versucht zu haben.“
Violet warf die Hände in die Luft, eine Geste, die so
sehr Unity war, dass es Oliver schmerzte.
„Du versuchst es seit fünf Jahren. Dein Leben ist seit
dem Tag vorbei, an dem das mit ihr geschehen ist.“ In ihrer Stimme lag keine Härte,
kein Vorwurf. Vielleicht fühlten sie sich deshalb an wie ein Schlag in die
Magengegend.
„Es muss einen Weg geben, sie wieder zu uns zu holen.“
Violet ging an ihm vorbei. Er wusste, was sie sagen würde,
denn das war die letzte Runde ihres gemeinsamen Spiels. „Keinen, den wir
kennen.“
Ein richtiger Gänsehauttext einmal wieder.
AntwortenLöschenIch muss gestehen, dass ich beim Lesen manchmal vergesse um welches Wort/um welches Thema es eigentlich ging. Auch hier musste ich nochmal kurz nachsehen und mich erinnern, dass es "Game" war und als mir das dann wieder bewusst war, dachte ich nur, wie subtil und trotzdem treffend du das Thema verarbeitet hast.
Eine ganz tolle Szene, die für sich allein stehend großartig ist, aber ebenso ein neues Universum einer neuen Geschichte beherbergen könnte. Ich bin jedes Mal froh, wenn ich was neues von dir lesen darf ♥
Ich muss zugeben, dass ich diesen Text quasi in der Sekunde völlig vergessen habe, in der ich ihn hier gepostet habe. ^^''
LöschenIch freue mich aber immer, wenn man das Thema irgendwie erkennt, weil ich immer das Gefühl habe, ich lasse es gar nicht einfließen.