Ewig ist Ruhe und jetzt der zweite Post in so kurzer Zeit? Die Muse ist zumindest kurzzeitig zurückgekehrt, das musste ich ausnutzen, solange es ging.
Am Anfang hier sehr viel Tell statt Show, aber das lässt sich irgendwie nicht anders machen, wenn man die "fehlenden Kapitel" dazwischen nicht ausschreiben möchte. Was soll's also.
Die Reise nach London war nicht unbedingt einfach für sie
gewesen.
Bernie hatte sich immer mit blassem Gesicht und einem
hektischen Ausdruck umgesehen und manchmal geweint. Elrica war sich sicher, sie
hatte bei weitem nicht immer mitbekommen, wenn Tränen in seinen Augen gestanden
hatten. Warum er geweint hatte, wusste sie nicht. Zeit seines Lebens hatte er
immer vom Hof verschwinden und in der Stadt leben wollen, die so viel Abenteuer
versprach.
Mutter war mit offenen Augen dabei gewesen, hatte oft aus
der Kutsche geschaut und nicht verbergen können, dass dies das größte Abenteuer
in einer Weile für sie war. Wann war sie noch das letzte Mal weiter als zum
Krämer gefahren oder zu einem ihrer Nachbarn?
Elrica selbst war sich nicht sicher, ob das alles nicht
zu viel und zu schnell für sie war. Alles würde anders sein, sollte die Königin
wirklich einen Vorschlag für sie haben, den sie annehmen konnte. Nicht einmal
von Rowan hatte sie sich verabschieden können! Ihr Jugendfreund würde nur einen
Brief vorfinden, sollte er sie besuchen wollen, in dem stand, wohin sie
unterwegs war. Ob er dem dann auch Glauben schenkte, war eine andere Sache.
Auf halbem Weg zum Ziel war eines der Räder an ihrer
geliehenen Kutsche gebrochen. Christopher war auf seinem Pferd schnell in den
nächsten Ort geritten, um ihnen Hilfe zu besorgen. Verlängert hatte das ihre
Reisezeit natürlich trotzdem. Wenigstens waren sie auf der gesamten Fahrt von
ihm besser mit Essen versorgt worden, als sie es selbst auf dem Hof geschafft
hatten. Nicht ein einziges Ei war Bestandteil ihrer Mahlzeiten gewesen, außer
sie hätten es ausdrücklich gewünscht. Aber dafür hätten sie deutlich mehr
miteinander reden müssen. Es war eine der stillsten Reisen in Elricas Leben
gewesen.
Nun waren sie jedoch endlich angekommen und wurden aus
der Kutsche gelassen. Elrica erkannte den Wachmann, der ihr beim Aussteigen half
und ihr dabei zulächelte. Es war der Mann mit den karottenroten Haaren, dessen
Namen sie immer wieder vergaß.
„Dich werde ich auch nicht los“, sagte sie mit einem
Grinsen.
Er strahlte sie an. „Jedenfalls nicht, solange Jeff dich
immer wieder mitbringt. Gut zu sehen, dass es dir trotz allem gut geht.“
Bevor sie sich eine Antwort überlegt hatte, zog
Christopher sie am Ellenbogen weg, sodass sein Kollege ihrer Familie helfen
konnte. Sie folgte ihm durch eine recht nichtssagende Tür in Gänge herein, die
ihr viel zu vertraut waren. Mutter und Bernie hielten sich hingegen aneinander
fest, während sie alles auf sich wirken ließen, alle Möbel, alle Gemälde, all
den zur Schau gestellten Prunk.
Einige Frauen kamen an ihnen vorbei, irgendwelche Mägde
auf dem Weg zu ihrer Arbeit. Sie betrachteten die Neuankömmlinge mit zusammen
gepressten Lippen oder wandten sich demonstrativ von ihren hageren, dreckigen
Formen ab. Elrica griff nach ihren Haarspitzen, die inzwischen etwa auf Höhe
ihres Schlüsselbeins waren. Sie fühlten sich spröde an, die Längen waren
verklettet. Natürlich konnten die Mägde mit ihren Häubchen und gestärkten Schürzen
wenig mit ihrem Erscheinungsbild anfangen.
„Wir werden gleich vor Ihre Majestät treten“, stellte
Christopher ruhig fest, was Mutter dazu brachte, den Atem anzuhalten. „Keiner
muss etwas sagen, außer er wird direkt angesprochen. Eigentlich besagt das
Protokoll sogar, dass niemand eures Ranges sprechen darf, außer es ist eine Antwort
– aber Ihre Majestät gibt nicht immer viel auf das Protokoll. Sonst wärst du
auch bereits einen Kopf kürzer.“
Der letzte Teil war klar an Elrica gerichtet, die ihre Finger
aus den Haaren nahm und das Kinn hob.
„Wenn ich mich richtig erinnere, hast du ihr nicht nur
widersprochen, sondern bist unter falschem Namen in ihre Nähe gelangt. Ich
glaube, Angelique kann dich ganz gut leiden, wenn sie dir das durchgehen lässt.“
„Touché.“
Sie spürte eine Berührung an der Schulter und drehte sich
um. Mutter sah aus, als wolle sie etwas sagen ohne sich zu trauen.
Bernie hingegen stellte seine Frage, wobei seine Augen
einen weiten Ausdruck trugen: „Hast du schon viel mit Ihrer Majestät
gesprochen?“
Reflexartig schüttelte Elrica den Kopf. Es waren nur
wenige eher einseitige Gespräche im Krankenzimmer gewesen und eines, nachdem
Bernie gerettet worden war.
„Nur ein paar Mal kurz. Ihn hier“, sie machte eine Kopfbewegung
zu Christopher, „kenne ich besser. Und er sie.“
„Na ja, ich bin der persönliche Wachmann Ihrer Majestät,
da ergibt sich das von selbst.“ Man hörte ihm sein Lächeln an.
Etwas zog durch Elricas Brust, das hässlich und dunkel
anfühlte, wofür sie so schnell jedoch keinen Namen fand. Sie hatte auch keine
Zeit sich mit solch einer Nichtigkeit zu beschäftigen, denn sie betraten einen
recht kleinen Raum, in dem an jeder Wand ein überquellendes Bücherregal stand.
Mittig im Raum stand ein Tisch voller Papiere, an dessen Seite Angelique saß,
vertieft in den Text vor ihr. Sie saß gerade, hielt die Schultern auf einer Ebene.
Eine Strähne hatte sich aus ihrer Frisur gelöst und fiel ihr locker über die Stirn,
was vielleicht genau die Intention der Dame gewesen war, die Ihre Majestät so
hergerichtet hatte.
Mutter knickste sofort und auch Bernie ging in die Knie,
um Ihrer Majestät die Ehre zu erwiesen. Angelique bemerkte dies erst, als
Christopher sich räusperte.
„Du bist zurück!“ Ihre dunklen Augen strahlten beim
Anblick des Mannes, der sich als Wache ausgab. Und sie verloren ihren Glanz
nicht, als sie ihre weiteren Gäste erblickte.
„Ihr seid tatsächlich mitgekommen. Mrs. Johnson, Bernard,
Elrica, es ist mir eine Freude euch“, sie stockte, „Sie wiederzusehen. Erheben
Sie sich doch bitte wieder.“
„Die Freude ist ganz unsererseits“, beeilte Mutter sich
zu beteuern, noch ehe sie wieder richtig stand.
Elrica musste an sich halten, nicht mit den Augen zu
rollen.
Angelique erhob sich aus ihrem Stuhl, der nicht
wesentlich bequemer aussah als jene, auf welchen sich die einfache Bevölkerung
zum Essen versammelte. Ihre Papiere drehte sie um, als schütze sie damit
Staatsgeheimnisse. Was sie vermutlich auch tat. Trotzdem erschien es Elrica
absurd.
„Ich hoffe, Ihre Reise war nicht allzu beschwerlich.“
Mutter und Bernie verneinten leise, was Elrica so nicht
stehen lassen konnte: „Wenn man von einem gebrochenen Rad und der anhaltenden
feuchten Kälte absieht, war alles ganz annehmbar.“
Es entstand eine kurze Stille, in der Angelique nur
leicht den Kopf schüttelte. Dann deutete sie auf die beiden Stühle am Tisch.
„Wenn Sie möchten, können Sie-“
„Danke, nicht nötig. Wir haben lange gesessen.“
Mutter sog scharf die Luft ein, als Elrica die Königin
unterbrach. Diese schien noch an das Temperament ihres Gastes gewöhnt zu sein.
„Forsch wie eh und je. Dann ist es Ihnen wohl recht, wenn
ich gleich zum Punkt komme, Elrica?“
Ein Nicken genügte als Antwort.
„Nun, einige Posten hier am Hof sind vakant, weil die
Damen und Herren, die sie bekleidet haben, meinem Onkel, Gott habe ihn selig,
treu ergeben waren, mir gegenüber diese Treue nicht halten. Sie haben andere
Stellen angenommen und somit Lücken hinterlassen. Jeder von Ihnen kann hier
eine freie Stelle besetzen. Sie würden in Lohn und Brot stehen und hier in die
Unterkünfte ziehen können.“
Elrica behagte das nicht. Erst einmal ging es sie nichts
an, weshalb die Stellen unbesetzt waren. Zudem wollte sie nicht für Angelique
arbeiten, wohingegen Mutter dankbare Tränen unterdrückte, um eine gewisse Würde
an den Tag legen zu können.
„Wir haben keinerlei Erfahrung oder Referenzen. Wie
sollen wir so die Arbeit bei Hofe korrekt verrichten?“, fragte Elrica so freundlich
sie zwischen zusammen gebissenen Zähnen sein konnte.
Angelique lächelte mild und wandte sich an Mutter. „Ihr
Mädchenname ist Irvin, nicht wahr? Und Sie haben vor Ihrer Heirat bei Lord
Fortescue gearbeitet, liege ich richtig?“
Verdatterten guckten Elrica und Bernie zu Mutter, die
verlegen zustimmte.
„Ein paar Jahre und kurz vor meiner Vermählung habe ich
dort aufgehört. Es war gute, ehrliche Arbeit und die Regeln sind nicht schwer
zu verstehen oder einzuhalten.“
„Warum hast du uns nie etwas gesagt?“, fragte Bernie.
„Euer Vater hatte es sich mit Lord Fortescue verscherzt,
also war meine Anstellung dort in seinen Augen eine Schande in meinem Leben.“
„Dabei sind sowohl der alte als auch der junge Lord sehr
angenehme Zeitgesellen“, ergänzte Christopher.
„Wie dem auch sei“, unterbracht Angelique den kurzen
Exkurs, „haben beide Lords Sie in bester Erinnerung behalten, Mrs. Johnson, und
Sie nach den vielen Jahren über die Maßen gelobt.“
Erfahrung und Referenz. Elrica wusste, einzig sie, das
diebische, verkrüppelte, schwarze Schaf der Familie, würde hier mit Argwohn
betrachtet werden. Bernie war ein halbes Kind und Mutter eine gute Seele, die
mit ihrem natürlichen Charme viele Freunde gewinnen würde, wenn sie es sich nur
selbst erlaubte. Beide würden ihren Platz hier finden. Um ihretwillen war es
Elrica unmöglich, das Angebot abzulehnen.
„Ich würde auch Ihren Hof begutachten lassen und meinen
Ländereien zufügen – natürlich nur gegen eine angemessene Bezahlung.“
Elrica ballte die Hände. Damit würde sie alles aufgeben,
was ihr Leben ausgemacht hatte. Kein eigener Hof mehr, kein Dasein als Wiesel,
keine Freiheit, durch die Wälder zu streifen wie es ihr beliebte. Sie wäre Dienerin
der Krone, mehr als jemals zuvor. Den Hof von London aus im Auge zu behalten
oder gar zu bewirtschaften, sollten die Zeiten besser werden, war ihr aber auch
unmöglich.
„Leider“, setzte Angelique an, „habe ich noch
Korrespondenz hier liegen, die meine baldige Aufmerksamkeit benötigt. Ich
schlage vor, Sie ruhen sich in den Krankenräumen der Palastwache aus, dort ist
gerade genug Platz frei. Eine helfende Hand bei einem auftretenden Notfall ist
dort sich auch gerne gesehen. Jeff, geleite Familie Johnson doch dorthin. Ich
erwarte alsbald Ihre Entscheidung, Mrs. Johnson.“
Elrica wusste, dass Mutter sich bereits entschieden hatte,
und es nun an ihr lag, umgestimmt zu werden. Zuerst verabschiedeten sie sich förmlich
von der Königin und traten den Weg in die Räume an, in denen Elrica vor einiger
Zeit lebendig und um ein halbes Bein ärmer erwacht war. Ein Tag, der alles verändert
hatte.
Nathan, der zuständige Arzt, musterte sie verschlafen,
widmete sich dann wieder dem Buch zu, in dem er scheinbar ziellos blätterte.
Sie gingen in dieselbe Ecke von damals, zum selben Bett,
in dem Elrica gelegen hatte. Der Sichtschutz stand einige Meter weiter weg als
zu der Zeit, trotzdem musste sie an die Stunden denken, in denen sie mit ihrem
Schicksal gerungen hatte. Das tat sie ja immer noch, wenn wieder einmal ein
Ziehen durch den Fuß fuhr, der gar nicht mehr da war.
„Ihr könnt euch hier ausruhen, wie Ihre Majestät gesagt
hat. Nathan stört es nicht, das habt ihr ja gerade gesehen. Wenn ihr etwas
braucht, Essen oder Wasser, sprecht ihn darauf an. Ansonsten kennst du dich ja
sicher noch hier aus“, sagte Christopher, der sich bereits abwandte.
„Chris“, Elrica zögerte, „ich sollte dich hier wohl Jeff
nennen.“
„Das solltet ihr alle. Bis auf Ihre Majestät wisst hier
nur ihr, wer ich in Wahrheit bin.“
Sie wusste, dass sie ihn nicht gehen sehen wollte. Sie
wusste nicht, was ihn dazu bringen konnte, bei ihnen zu bleiben.
Christopher wartete kurz ab, dann verschwand er zur Tür,
was ihr überhaupt nicht zusagte. Sie war doch noch dabei, die vergangenen Tage
irgendwie zu begreifen, da konnte er sie doch nicht mit ihren Gedanken und
Erinnerungen an diesen Ort alleine lassen! Sie hatte alles hinter sich
gelassen, den Hof, Rowan, ihre Vergangenheit, um für ihre Familie die Hilfe einer
Frau anzunehmen, von der sie weitaus weniger hielt als sie sollte. Dass sie
auch mitgekommen war, weil sie Christopher vermisst hatte, würde niemals jemand
von ihr hören. Er war doch nur ein reicher Bursche, dem seine Scharade bei Hofe
gut gefiel, weil er sich so der Aufmerksamkeit seiner Königin sicher sein
konnte. Sicherlich war das gut für ein jedes männliches Ego. Nur schien ihm
etwas an Elrica zu liegen, so verquer das auch sein mochte.
Sie ging ihm hinterher, kaum war er aus dem Raum
getreten. Was Mutter und Bernie taten, bemerkte sie gar nicht. Ihr Stumpf schmerzte,
jede Faser ihres Körpers verlangte nach einem Bett und einen guten Dosis Ruhe. Elrica
kümmerte das nicht.
„Jeff, warte!“, sagte sie, als sie den Raum verlassen
hatte.
Er drehte sich zu ihr um.
„Brauchst du noch etwas?“, fragte er neutral.
„Warum bist du so zu mir?“
„Was meinst du?“
„Du bist so distanziert! Ich verstehe nicht, was los ist.
Du warst sonst anders zu mir!“
Der anklagende Ton in ihrer Stimme missfiel ihr zutiefst,
so sehr er auch Ausdruck ihrer Verwirrung war. Vorsichtig griff sie nach seiner
Hand, sah etwas wie einen Geist über sein Gesicht huschen, so schnell, dass sie
es nicht richtig erkennen konnte. War das Schmerz gewesen? Trauer? Reue?
„Das bildest du dir ein, weil du ausgelaugt bist“, sagte
er, während er zwei Schritte zurück machte und ihr somit seine Hand entzog, „lass
uns reden, wenn du dich richtig ausgeruht hast.“
Ihr blieb nicht einmal Zeit für eine Antwort, da ging er
bereits weg, als wäre der Teufel hinter seiner Seele her.
Elrica verstand das nicht. Sie konnte die Wärme seiner Finger noch an ihren fühlen. Etwas musste geschehen sein, das er ihr nicht erklären wollte, jedenfalls nicht sofort. Es konnte nichts sein und sie bildete sich das wirklich ein. Es könnte ihre ganze Freundschaft verändern, denn das waren sie inzwischen geworden.
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