Hier der Beitrag zu: Introduction.
Schon lange saß er an diesem Tisch und beobachtete die
Menschen rundherum, die geschäftig an dem Café vorübergingen oder sich einen
Moment überlegten, ob sie nicht doch eintreten sollten. Es war ein schöner
sonniger Herbsttag, das Laub hing in allen Farbtönen zwischen einem frischen
Grün und Feuerrot an den Bäumen. Man konnte es sich gutgehen lassen, einfach
durch die Stadt schlendern, die Schaufenster und Auslagen betrachten. Man konnte
einen Kaffee genießen oder Eis essen. Man konnte Leute beobachten.
Er bestellte mit wenigen Worten einen zweiten Kaffee bei
der kleinen Kellnerin, die ihm immer wieder verheißungsvoll zulächelte, doch
das ließ ihn kalt. Dieses Ding wollte sich ein nettes Trinkgeld mit einem
hübschen Gesicht verdienen, doch diese Tour zog bei ihm nicht, nein, da musste
schon mehr kommen als große rehbraune Augen. Bambi war nicht ganz sein Typ.
Eine Gruppe Kinder schlängelte sich durch die Stühle, es
mussten Schüler sein, die zu irgendeinem Denkmal oder Kino unterwegs waren,
etwas spät zwar für einen Schulausflug, aber durchaus zur Nachmittagsvorstellung
irgendeines Filmes, der sie sicherlich zu Tode langweilen würden. Ihnen voran
gingen ein Mann und eine Frau, die sich verwirrt in alle Richtungen – außer nach
hinten – umschauten, auf Karten und Smartphones schauten und sich rege
unterhielten. Eindeutig die Lehrer. Der Mann interessierte ihn nicht, ein
junger Schnösel, wahrscheinlich noch keine drei Jahre aus der Universität
heraus, Selbstsicherheit in Körperhaltung und Gang, der versuchte, sein Telefon
so zu drehen, dass er etwas erkannte, was ihnen weiterhelfen konnte. Sie
hingegen war interessanter. Immer wieder glitt ihr Blick zur Karte auf dem
Display, dann schüttelte sie den Kopf mit den hellbraunen Locken. Ihr gefiel
der Faltplan, den sie beharrlich immer wieder ins Blickfeld schob,
augenscheinlich besser als die Karte auf dem Telefon, was ihr jüngerer Kollege –
ebenfalls augenscheinlich – nicht nachvollziehen konnte.
Er grinste und nahm der Bambi-Kellnerin den Kaffee ab,
den diese mit ihrem zuckersüßen Lächeln abstellen wollte. Nee, Kleine, von mir
kriegst du kein Trinkgeld, schmink dir das mal schön ab.
Die Lehrerin drehte sich um und wies die Kinder zurecht,
die daraufhin sofort zwischen den Tischen und Stühlen der Cafés und Eisdielen
verschwanden und einigermaßen geordnet auf dem Gehsteig zum Stehen kamen. Eine
Klassenfahrt. Im Herbst? Das konnte er nicht einschätzen, er war kinderlos und
seine eigene Schulzeit lag gefühlte hundert Jahre zurück. Vielleicht machte man
Klassenfahrten um diese Jahreszeit, immerhin war auch der Frühling nicht
besonders geeignet und im Sommer war frei. Was interessierte es ihn? Die
Kinder, der junge Lehrer, sie alle interessierten ihn nicht. Nur die Lehrerin,
sie mochte um die vierzig sein, mit den braunen Locken und dem gerade
spöttischen Gesichtsausdruck, als die Karte auf dem Smartphone wohl eindeutig
versagte, weckte ein gewisses Bedürfnis, sich näher mit der Materie „unbekannte
Frau“ zu beschäftigen. Aber dem würde er nicht nachgehen, wie auch, er saß
hier, trank einen Kaffee, und diese Frau würde weitergehen, gefolgt von einer
Bande Schüler und einem Kollegen, der es nicht sicher nicht so leicht verkraftete,
dass die Technik sich geschlagen geben musste.
Als sie schließlich ihren Weg fortsetzten, nahm er einen
tiefen Schluck seines Kaffees, der ihm viel zu schwach war, das hatte er schon
bei der ersten Tasse bemerkt. Eigentlich eine Frechheit bei den Preisen, die
hier verlangt wurden, aber er war zu träge, sich ein anderes Café zu suchen,
sodass ihm nur der dünne Kaffee übrig blieb. So hatte er wenigstens seine Ruhe
und konnte sich ein wenig über Bambi lustig machen, die mit dem Elan eines
Kitzes zwischen den Tischen hin und her sprang. Ja, die hatte wirklich etwas
von einem Bambi, obwohl das nur aufgesetzt sein konnte, Berechnung.
Ohne Fokus schweifte sein Blick über die Umgebung. Es war
ein netter Platz, der mit grauen Pflastersteinen ausgelegt war, in der Mitte
ein Brunnen, um den sich Touristen scharrten, obschon er weder besonders pompös
noch schön war. Eher ein wenig kitschig mit den kleinen Engelchen, die aus
ihren großen Krügen Wasser vergossen. Die Stadt hegte diesen kleinen Schatz wie
ihren Augapfel, der weder zum Sitzen benutzt werden durfte noch dazu, Münzen
hineinzuwerfen. Jedenfalls in der Theorie. Auch hier herrschte der chronische
Geldmangel sämtlicher Städte auf der ganzen Welt und so gab es niemanden der sich
verantwortlich fühlte, die Verbote zu kontrollieren und durchzusetzen.
Drumherum hatten sich in gebührendem Abstand eine Reihe
Souvenirhändler aufgestellt, die dem ohnehin schon kitschigen Brunnen mit noch
kitschigeren Geschenkartikeln ihren Tribut zollten. Erstaunlich war das nicht,
denn die Touristen stürzten sich darauf wie ausgehungerte Wölfe, dabei waren
höchstens die Ansichtskarten einigermaßen geschmackvoll. Nun, er konnte Nippes
nichts abgewinnen, daran musste es liegen, dass er das alles albern fand.
In sein Blickfeld trat eine junge Frau, die in der Hand
eine Tüte eines der Geschäfte hielt, die sich jenseits der Souvenirhändler und
damit auf Höhe der Eisdielen und Cafés befanden. Sie wäre ihm gar nicht weiter
aufgefallen, wenn ihr Gang ihn nicht so fasziniert hätte. Wiegende Hüften,
lange Beine, die unsichere Schritte setzten. Dieser scheinbare Gegensatz ließ
ihn sie weiter anschauen, die hochgeschlossenen Lederstiefel mit den flachen
Sohlen, ein hellrosafarbenes Kleid, das weit über den Knien endete und leicht,
ja, am Saum sogar fast durchsichtig wirkte. Um die Schultern trug sie ein
dunkelrotes Tuch. Auch das passte in seinen Augen nicht zusammen. Sie schaute
sich nervös um, ehe sie sich auf einen Stuhl in seiner Nähe setzte, was es ihm
erleichterte, sie in den Augen zu behalten. Der Aufzug war nicht ihre Wahl,
jedenfalls glaubte er das nicht. Sie sah verloren aus in dem Kleid, ihr Haar,
das die Farbe von Akazienhonig hatte und ihr bis knapp über die Schulter reichte,
und wurde auf einer Seite von einer Spange zurückgehalten, auf der eine
rosafarbene Blüte klebte, an der sie unentwegt herumfummelte.
Ein Erkennungszeichen, dachte er, sie will sich mit einem
Fremden treffen, den sie nicht kennt.
Und wie es aussah, war das nicht einmal ihre Idee gewesen.
Die Kleidung, die ihm nicht recht gefiel, aber ihre Figur betonte, schien ihr
Unbehagen zu bereiten, dieser Ort schüchterte sie ein, das konnte auch das präzise
gesetzte und trotzdem so bemerkenswert dezentes Make-up nicht vertuschen. Von
ihr ging eine Weiblichkeit aus, die unschuldig wirkte, als sei sie sich ihrer
Femininität nicht recht bewusst.
Langsam ging er die wenigen Schritte zu ihr hinüber und
beugte sich über sie. Sofort zuckte sie zusammen, schaute ihn dann jedoch an. „Ja…?“,
sagte sie leise.
„Sie haben nicht zufällig ein Taschentuch für mich?“,
fragte er mit einem charmanten Lächeln, das sie nur dazu brachte, ihn
aufmerksam unter ihren dichten schwarzen Wimpern zu mustern. Er schätzte diese
junge Frau, dieses Mädchen nicht als jemanden ein, der sich selbst dieses
Make-up aufgelegt hatte, dafür hatte sie zu sehr die Ausstrahlung einer grauen
Maus.
„Nein, ich glaube, ich habe keines dabei, tut mir ehrlich
leid.“ Diese klare, wortreiche Entschuldigung passte nun wiederum auch nicht ins
Bild.
„Schade.“
Er wandte sich seinem Platz wieder zu, setzte sich hin
und griff eine Serviette, als habe er sie gerade erst auf dem Tisch entdeckt. Der
jungen Frau winkte er damit zu und zuckte mit den Schultern. Ich Idiot, sagte
diese Geste, doch sie sah ihn nur unverständig an.
Eine überaus spannende Person. Kleines Mädchen,
gleichzeitig Frau, in sich gekehrt, aber im Umgang mit Menschen durchaus nicht auf
den Mund gefallen – all das reimte er sich nun anhand einiger Blicke und weniger
Worte zusammen. Dieses Mädchen musste er unbedingt näher kennenlernen, da kümmerte
es ihn auch nicht, dass es hier offensichtlich auf jemanden wartete, aber, hey,
wenn es einen Fremden treffen wollte, dann war er doch so gut wie jeder andere
auch.
Ihre Blicke trafen sich. Wieder lag Beklemmung in ihren
Augen, gerade so, als habe sie Angst vor ihm oder ihrer derzeitigen Situation.
Eine junge Frau einem einzigen Widerspruch gleich. Wie
sie wohl wirklich war? Wer ihr dieses Outfit und das Date wohl besorgt hatte?
Sie war sicherlich keineswegs so schüchtern, wie sie wirkte, doch das hatten
diese Leute – Freunde, nahm er an – wohl nicht begriffen.
„Entschuldigung“, hörte er sich da auch schon sagen, „Sie
warten auf jemanden?“
„Ja.“
„Den Sie nicht kennen.“
„Geht Sie das etwas an?“, fragte sie schnippisch.
Das machte ihn einen Moment lang sprachlos. „Nein,
natürlich nicht. Ich frage mich nur, wer Sie warten lassen würde.“
Sie seufzte. War die Grobheit eine Flucht nach vorne?
Oder war die schüchterne Seite nur gespielt?
Er schaute lange zu ihr hinüber, während Bambi zwischen
ihnen hindurch ging.
„Nun“, sagte sie vorsichtig. „Wenn es sie eh schon so
interessiert… kann ich doch…“, sie biss sich auf die Unterlippe, schaute sich
um, „dann kann ich auch an ihrem Tisch warten, oder?“
Darauf nickte er nur. Geschmeidig erhob sie sich von
ihrem Stuhl und kam zu ihm hinüber. Eine merkwürdige Situation, auch für ihn.
Trotzdem stellte er sich mit klarer Stimme vor, immer ihrem Blick ausgesetzte,
so voller Dingen, die alle widersprüchlich waren, und gleichzeitig unglaublich
anziehend.
„Ich bin Tia.“
Ein schöner Text. Ich bin ganz begeistert!
AntwortenLöschenDer Protagonist war mir von Anfang an sympathisch. Die Lehrerin mag ich, weil sie nichts auf die Smartphone Karte von dem anderen Typen gibt und lieber bei ihrer analogen Karten bleibt ♥ Das Mädchen ist interessant und widersprüchlich. Und wie immer bei solchen Texten möchte ich nur eines: weiterlesen. Es hört immer da auf, wo es gerade besonders interessant/spannend ist - was wohl auch Absicht ist.