Einer der Texte, der sich hier etwas obskurer lesen wird, weil hinter der Protagonistin einiges an Hintergrundgeschichte steckt, die hier kaum zum Ausdruck kommt. Aber manchmal dreht es sich ja auch mehr darum, ein Gefühl einzufangen.
Eines Tages, das wusste Rose, würde sie ihre Flügel
verstecken können. Sie hingen schwarz und bedrohlich an ihrem Rücken,
unbenutzt, weil sie sich weigerte. Ihre Mutter verlor zunehmend die Geduld mit
ihr, schließlich sei sie darauf vorbereitet gewesen, eines Tages endlich die
Wege ihrer Herkunft zu akzeptieren. Zu ihrer dämonischen Gestalt passten sie
sehr gut. Zu der fahlgrauen Haut, den langen knochigen Gliedern und dem Kopf,
der in der Form irgendwo zwischen Windhund und Siamkatze lag.
Sie berührte sanft den Spiegel in dem Zimmer, das ihre
menschliche Familie ihr gegeben hatte und das sie alsbald wieder verlassen
musste.
An ihrer menschlichen Form sahen die Flügel aus wie ein
Halloweenkostüm, so sehr wichen sie von ihrem hellen Teint und den blonden
Haaren ab.
Rose seufzte und drehte sich um, wobei ihr Blick auf die
wenigen Fotos fiel, die sie in bunten Rahmen aufgestellt hatte. Im Pilzrahmen
war ein Foto vom Ausflug des Hockeyteams, zu dem sie hatte mitkommen dürfen,
ohne Mitglied zu sein. Im Rahmen mit großen Blumen sah sie sich umringt von
ihren Eltern und Geschwistern, die sie hier hinter sich lassen musste, ohne
ihnen sagen zu können, wohin sie so plötzlich verschwunden war. Und etwas näher
an ihrem Bett war der Bilderrahmen mit den Erdbeeren, den sie zu ihrem letzten
Geburtstag bekommen hatte, weil er sich so gut in ihre Dekoelemente einfügte.
Darin befand sich das Selfie, das sie einmal mit Bene gemacht hatte. Ihr Engel
hatte niemals erkannt, was sie war – oder er hatte es erkannt und einfach
darüber hinweggesehen, weil er sie mochte.
Und sie mochte ihn auch viel mehr als sie sollte.
Als sie sich ihrer Gefühle gewahr geworden war, hatte sie
versucht, den Kontakt abzubrechen. Aber da waren sie schon zu gut miteinander
befreundet gewesen. Außerdem wollte der egoistische Teil von ihr die Zeit mit
ihm genießen, solange es ihr möglich war.
Jetzt konnte sie sich ihm nicht mehr nähern, denn nun war
kaum zu leugnen, dass sie verfeindeten Gruppen angehörten.
Ein Geräusch von unten ließ sie die Luft anhalten. Wenn
jemand kam, musste sie sofort verschwinden, damit niemand sie sah. Sie musste
verschwunden bleiben, gesucht von der Polizei, die langsam aufgab. Rose hatte
aus dunklen Winkeln in der Nachbarschaft beobachtet, was hier geschehen war.
Sie kannte die Missing Person Poster, die überall ihr lächelndes Gesicht
zeigten. Die Suche nahm schon einige Tage in Anspruch und es wurde viel
gemutmaßt, was mit ihr geschehen sein konnte. Weggelaufen, entführt, im Wald
angegriffen und verscharrt. Sie sei plötzlich, wie vom Erdboden verschluckt
gewesen und leider traf diese Aussage die Wahrheit ziemlich gut.
Rose strich sich durch die neuerdings kürzeren Haare und
ging zu ihrem Bett, wo sie gerade noch dem Drang widerstand, das Bild in die
Hand zu nehmen.
Von allen Leuten, die sie wiedersehen wollte, dachte sie
am häufigsten an Bene, selbst wenn ihr das für ihre Familie leidtat. Er war der
einzige, den wiederzusehen, für sie jemals infrage kommen würde. Ihre Familie
und anderen Freunde mussten glauben, sie sei verstorben. Wie genau würde für
immer ein Rätsel bleiben und ihnen viel Schmerz bringen, da das Gehirn Lücken
gerne mit dem schlechtestmöglichen Ablauf von Ereignissen füllte.
Vielleicht blieb dieses Zimmer noch eine Weile als
Zeitkapsel erhalten. Als Rückzugsort, an dem Rose sich an ein Leben erinnern
konnte, in das es keinen Rückweg mehr gab.
Und sobald sie gelernt hatte, ihre Flügel vor aller Welt zu verbergen, würde sie Bene suchen.
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