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[Überblick]

Nachdem hier zuerst nur die Beiträge zu einer 50 Themes Challenge geordnet wewrden sollten, habe ich versucht, auch alle anderen kreativen T...

17.09.2025

[44 Drowning]

Es hat über die Jahre viel Spaß gemacht, sich immer wieder zu einem Überbegriff zu fragen, ob man etwas Neues dazu verfasst oder einen alten Text in irgendeiner Form fortsetzt. Beim Thema 'Drowning' war mir sehr schnell klar, dass ich nur den Text zu 'Innocence' als Basis nehmen kann. Wenn ich doch schon mal etwas über Meerjungfrauen geschrieben habe, darf das doch gerne fortgesetzt werden, oder nicht?


Fletch schaute auf die unruhige See hinaus und fragte sich, was um Himmels Willen ihn wieder hierher trieb. Die Sache gestern konnte nichts anderes als eine Einbildung gewesen sein, verursacht durch Unterkühlung. Eine Episode übermäßiger Verwirrung, in der er sich in Fantasywelten flüchtete. Es gab keine Meerjungfrauen - vor allem keine männlichen. Also war es nur logisch, sich nicht weiter davon einlullen zu lassen und Irma‘s den Rücken zu kehren.

Vielleicht war er deswegen wieder hier.

Sein Seufzer ging im Wind unter, der unnachgiebig an ihm zerrte. Die Meteorologen im Fernsehen hatten vorhin gesagt, dass sie noch immer keine Ahnung hatten, wie es zu diesem Wetterphänomen kam. Es entbehrte jeglicher Logik, denn laut allen Berechnungen sollte nicht einmal ein Schäfchenwölkchen am Himmel stehen. Nur war der Himmel so dunkel, dass man nicht glaubte, die Sonne jemals wiederzusehen.

„Du bist wirklich hier!“, sagte die Stimme von gestern viel zu freudig für Fletchs Geschmack.

Ein weiterer Seufzer, den niemand hören würde, entwich ihm, als er sich zu dem Wesen drehte, dessen Kopf aus dem Wasser ragte.

„Du auch“, sagte er ohne Betonung.

Eine Illusion geboren aus Unterkühlung, das musste es sein. Eine Lebensmittelvergiftung. Oder er war schlicht und ergreifend verrückt geworden, was seine gesamte Flucht zu Irma‘s erklären würde.

Das Wesen betrachtete ihn aus großen Augen, während es seine Flosse an der Wasseroberfläche spielen ließ.

„Also“, sagte Fletch und öffnete seine Hände in einer hoffentlich einladenden Geste, „du wolltest mich beobachten, weil ich eine Verbindung zum Wasser habe. Das habe ich doch richtig verstanden.“

„Ja.“

„Und die anderen wollen das nicht.“

„Genau.“

„Ich verstehe nichts davon, um ehrlich zu sein.“ Und das wollte er auch nicht. Trotzdem war er wieder hier und sprach mit seiner Wahnvorstellung, die diesmal auf Distanz blieb. Das konnte aber auch daran liegen, dass Fletch ganz bewusst nicht zu nahe am Wasser saß.

„Dieser Sturm taucht immer dann auf, wenn jemand nach uns ruft - und das ist bestimmt 300 Jahre nicht geschehen! Also musste ich mir ansehen, wer dafür verantwortlich ist, während die anderen noch darüber beraten, was das für uns bedeutet. Sie meinen, es kann sein, dass du unser Untergang sein wirst. Aber das glaube ich nicht.“

Fletch verzog das Gesicht. Jetzt gab es also nicht nur Meerjungfrauen, jetzt gab es auch noch Stürme, die von unbescholtenen Bürgern heraufbeschworen wurden, ohne dass die es wussten. Dabei wollte er doch nur den Gedanken um Jocelyn entfliehen.

Er musste sich dringend eine Kurzwahl für einen guten Psychologen anlegen.

„Bis gestern wusste ich nicht mal, dass es euch in irgendeiner Form gibt, wie soll ich euch da ans Leder“, er stockte, „an die Floss- ans Leben wollen?“

Das Wesen legte den Kopf schief und schaute ihn einen Augenblick nur ohne zu blinzeln an. Eine Gänsehaut zog über Fletchs Arm.

„Du musst es ja auch nicht richtig wissen, es reicht, wenn du es schon immer gespürt hast, dass es mehr als nur euch gibt.“

Mehr als tief durchatmen, damit er nicht laut lachte, konnte Fletch erst einmal nicht machen. Das alles war so absurd, dass er beinahe eine versteckte Kamera hinter einem der Steine erwartete. Es konnte wirklich nichts anderes als ein Konstrukt eines - seines - verwirrten Geistes sein. Und das gefiel ihm gar nicht. Als nächstes lief er noch schreiend durch die Gegend, weil die Fliegen aus seinem Kopf verschwinden sollten.

„Du glaubst mir nicht“, sagte das Wesen.

„Nein. Ich glaube nicht einmal, dass ich dich wirklich vor mir sehe, okay? Du bist ein halber Fisch!“

Wie um die Aussage zu bekräftigen, klatschte die Flosse stärker als zuvor auf die Wasseroberfläche und bewegte sich danach nicht mehr. Das Wesen sah ihn weiter mit viel zu wenigen Augenschlägen an.

„Wie kannst du nicht glauben, was du vor dir siehst?“

„Es gibt gibt genug Psychologen, Philosophen und Theologen, die an dieser Frage ihre Freude hätte.“

Das Wesen zog sich durch das flache Wasser zu ihm an Land und legte ihm eine Hand auf das Knie. Erst jetzt sah Fletch die Schwimmhäute zwischen den Fingern und die krallenartigen Nägel. Das hier war ein Raubtier, obwohl es mit dem schmalen, jungenhaften Gesicht ziemlich freundlich wirkte. Was dieser Zwiespalt über seinen Geisteszustand aussagte, konnte Fletch alleine nicht entschlüsseln.

„Wie heißt du eigentlich?“, fragte er vielleicht ein wenig zu barsch. Das Wesen zuckte nicht einmal unter seinem Ton zusammen.

„Cian.“

Der Wind um sie herum heulte auf, eine besonders hohe Welle preschte bis zu ihnen vor, die Fletch erzittern ließ.

„Und ihr seht alle aus wie du?“

Cian verzog empört das Gesicht. „Ihr seht doch auch nicht alle gleich aus!“

Fletch hob abwehrend die Hände und fragte sich, ob es einfach sein Ding war, Leute ungewollt zu beleidigen. „Sorry, echt. Was ist mit euren Flossen?“

„Alle unterschiedlich.

„Wie alt bist du?“

„Du stellst viele Fragen für jemanden, der sich noch nicht vorgestellt hat und nicht glaubt, dass ich vor ihm bin.“

Da hatte Cian leider recht. Trotzdem weigerte sich ein Teil von Fletch auch nur eine Silbe über sich selbst zu verlieren, wenn er sich doch mit der Fantasterei auseinandersetzen konnte, die sein Kopf ganz speziell für ihn erschaffen hatte. Eine Fantasterei, die aussah, als wäre sie ein vielleicht zwanzig Jahre alter Junge im ausgefallenen Cosplay, und die keinerlei Verständnis für sein Bedürfnis nach Abstand hatte, wie ihm die Hand auf seinem Knie bewies. Er zog es nicht weg.

„Na ja, du hast gesagt, du willst mich beobachten. Jetzt hast du mich getroffen. Also was kommt als nächstes in deinem Plan?“

So wie Cian ihn anschaute, schien der Plan nicht elaborierter zu sein.

„Ich will nur nicht, dass sie dich ertränken!“, sagte Cian viel sanfter als Fletch es bei der Aussage könnte.

„Das ist löblich, wirklich. Ich habe nicht vor euch etwas zu tun. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht mal, ob ich hierbleiben soll! Ich könnte einfach wegfahren und nie wieder ans Meer zurückkehren, dann können deine Leute mir auch nichts anhaben.“

„Aber dann stirbt deine Seele auf eine andere Weise. Du brauchst das Meer. Du brauchst dieses Meer.“

Fletch öffnete schon den Mund, um dem Nonsens zu widersprechen, als ihm Erinnerungen aus seinem Leben durch den Kopf schossen. Wann immer er sich schlecht gefühlt hatte, war er irgendwie letzten Endes wieder am Wasser gelandet, weil der Anblick ihn selbst dann noch beruhigte, wenn ein Sturm darüber fegte. Vielleicht hatte Cian ja recht.

„Was soll ich stattdessen machen?“, fragte er also direkt nach.

Mit einer Kraft, die man dem schmalen Körper nicht zutraute, zog Cian sich weiter hoch, bis ihre Gesichter nur knapp voneinander entfernt waren.

„Noch beraten sie, was mit dir zu tun ist.“

Fletch nickte, während er fasziniert die unnatürlich hellen Augen musterte, in denen sich einige dunkle Flecken versteckten. Ihm war, als könne er spüren, wie sein Herz langsamer schlug als zuvor. Das war absurd. Nur, weil dieses Wesen, dieser Junge ihm Unsinn erzählte, würde er doch nicht darauf eingehen.

„Und?“

„Wir können bestimmt herausfinden, was wir machen sollten, wenn wir nur genug darüber nachdenken“, sagte Cian so sanft, dass Fletch ihn fast nicht hörte.

„Also morgen wieder hier?“

„Morgen wieder hier.“

Mit diesen Worten stieß sich Cian von ihm los und verschwand zurück in die Fluten.

Fletch ließ sich rücklings auf den Sand fallen und fuhr sich lachend mit den Händen über das Gesicht. Was machte er hier nur? 

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