Es hat über die Jahre viel Spaß gemacht, sich immer wieder zu einem Überbegriff zu fragen, ob man etwas Neues dazu verfasst oder einen alten Text in irgendeiner Form fortsetzt. Beim Thema 'Drowning' war mir sehr schnell klar, dass ich nur den Text zu 'Innocence' als Basis nehmen kann. Wenn ich doch schon mal etwas über Meerjungfrauen geschrieben habe, darf das doch gerne fortgesetzt werden, oder nicht?
Fletch schaute auf die unruhige See hinaus und fragte
sich, was um Himmels Willen ihn wieder hierher trieb. Die Sache gestern konnte
nichts anderes als eine Einbildung gewesen sein, verursacht durch Unterkühlung.
Eine Episode übermäßiger Verwirrung, in der er sich in Fantasywelten flüchtete.
Es gab keine Meerjungfrauen - vor allem keine männlichen. Also war es nur
logisch, sich nicht weiter davon einlullen zu lassen und Irma‘s den Rücken zu
kehren.
Vielleicht war er deswegen wieder hier.
Sein Seufzer ging im Wind unter, der unnachgiebig an ihm
zerrte. Die Meteorologen im Fernsehen hatten vorhin gesagt, dass sie noch immer
keine Ahnung hatten, wie es zu diesem Wetterphänomen kam. Es entbehrte
jeglicher Logik, denn laut allen Berechnungen sollte nicht einmal ein
Schäfchenwölkchen am Himmel stehen. Nur war der Himmel so dunkel, dass man
nicht glaubte, die Sonne jemals wiederzusehen.
„Du bist wirklich hier!“, sagte die Stimme von gestern
viel zu freudig für Fletchs Geschmack.
Ein weiterer Seufzer, den niemand hören würde, entwich
ihm, als er sich zu dem Wesen drehte, dessen Kopf aus dem Wasser ragte.
„Du auch“, sagte er ohne Betonung.
Eine Illusion geboren aus Unterkühlung, das musste es
sein. Eine Lebensmittelvergiftung. Oder er war schlicht und ergreifend verrückt
geworden, was seine gesamte Flucht zu Irma‘s erklären würde.
Das Wesen betrachtete ihn aus großen Augen, während es
seine Flosse an der Wasseroberfläche spielen ließ.
„Also“, sagte Fletch und öffnete seine Hände in einer
hoffentlich einladenden Geste, „du wolltest mich beobachten, weil ich eine
Verbindung zum Wasser habe. Das habe ich doch richtig verstanden.“
„Ja.“
„Und die anderen wollen das nicht.“
„Genau.“
„Ich verstehe nichts davon, um ehrlich zu sein.“ Und das
wollte er auch nicht. Trotzdem war er wieder hier und sprach mit seiner
Wahnvorstellung, die diesmal auf Distanz blieb. Das konnte aber auch daran
liegen, dass Fletch ganz bewusst nicht zu nahe am Wasser saß.
„Dieser Sturm taucht immer dann auf, wenn jemand nach uns
ruft - und das ist bestimmt 300 Jahre nicht geschehen! Also musste ich mir
ansehen, wer dafür verantwortlich ist, während die anderen noch darüber
beraten, was das für uns bedeutet. Sie meinen, es kann sein, dass du unser
Untergang sein wirst. Aber das glaube ich nicht.“
Fletch verzog das Gesicht. Jetzt gab es also nicht nur
Meerjungfrauen, jetzt gab es auch noch Stürme, die von unbescholtenen Bürgern
heraufbeschworen wurden, ohne dass die es wussten. Dabei wollte er doch nur den
Gedanken um Jocelyn entfliehen.
Er musste sich dringend eine Kurzwahl für einen guten
Psychologen anlegen.
„Bis gestern wusste ich nicht mal, dass es euch in
irgendeiner Form gibt, wie soll ich euch da ans Leder“, er stockte, „an die
Floss- ans Leben wollen?“
Das Wesen legte den Kopf schief und schaute ihn einen
Augenblick nur ohne zu blinzeln an. Eine Gänsehaut zog über Fletchs Arm.
„Du musst es ja auch nicht richtig wissen, es reicht,
wenn du es schon immer gespürt hast, dass es mehr als nur euch gibt.“
Mehr als tief durchatmen, damit er nicht laut lachte,
konnte Fletch erst einmal nicht machen. Das alles war so absurd, dass er
beinahe eine versteckte Kamera hinter einem der Steine erwartete. Es konnte
wirklich nichts anderes als ein Konstrukt eines - seines - verwirrten Geistes
sein. Und das gefiel ihm gar nicht. Als nächstes lief er noch schreiend durch
die Gegend, weil die Fliegen aus seinem Kopf verschwinden sollten.
„Du glaubst mir nicht“, sagte das Wesen.
„Nein. Ich glaube nicht einmal, dass ich dich wirklich
vor mir sehe, okay? Du bist ein halber Fisch!“
Wie um die Aussage zu bekräftigen, klatschte die Flosse
stärker als zuvor auf die Wasseroberfläche und bewegte sich danach nicht mehr.
Das Wesen sah ihn weiter mit viel zu wenigen Augenschlägen an.
„Wie kannst du nicht glauben, was du vor dir siehst?“
„Es gibt gibt genug Psychologen, Philosophen und
Theologen, die an dieser Frage ihre Freude hätte.“
Das Wesen zog sich durch das flache Wasser zu ihm an Land
und legte ihm eine Hand auf das Knie. Erst jetzt sah Fletch die Schwimmhäute
zwischen den Fingern und die krallenartigen Nägel. Das hier war ein Raubtier,
obwohl es mit dem schmalen, jungenhaften Gesicht ziemlich freundlich wirkte.
Was dieser Zwiespalt über seinen Geisteszustand aussagte, konnte Fletch alleine
nicht entschlüsseln.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte er vielleicht ein
wenig zu barsch. Das Wesen zuckte nicht einmal unter seinem Ton zusammen.
„Cian.“
Der Wind um sie herum heulte auf, eine besonders hohe
Welle preschte bis zu ihnen vor, die Fletch erzittern ließ.
„Und ihr seht alle aus wie du?“
Cian verzog empört das Gesicht. „Ihr seht doch auch nicht
alle gleich aus!“
Fletch hob abwehrend die Hände und fragte sich, ob es
einfach sein Ding war, Leute ungewollt zu beleidigen. „Sorry, echt. Was ist mit
euren Flossen?“
„Alle unterschiedlich.
„Wie alt bist du?“
„Du stellst viele Fragen für jemanden, der sich noch
nicht vorgestellt hat und nicht glaubt, dass ich vor ihm bin.“
Da hatte Cian leider recht. Trotzdem weigerte sich ein
Teil von Fletch auch nur eine Silbe über sich selbst zu verlieren, wenn er sich
doch mit der Fantasterei auseinandersetzen konnte, die sein Kopf ganz speziell
für ihn erschaffen hatte. Eine Fantasterei, die aussah, als wäre sie ein
vielleicht zwanzig Jahre alter Junge im ausgefallenen Cosplay, und die
keinerlei Verständnis für sein Bedürfnis nach Abstand hatte, wie ihm die Hand
auf seinem Knie bewies. Er zog es nicht weg.
„Na ja, du hast gesagt, du willst mich beobachten. Jetzt
hast du mich getroffen. Also was kommt als nächstes in deinem Plan?“
So wie Cian ihn anschaute, schien der Plan nicht
elaborierter zu sein.
„Ich will nur nicht, dass sie dich ertränken!“, sagte
Cian viel sanfter als Fletch es bei der Aussage könnte.
„Das ist löblich, wirklich. Ich habe nicht vor euch etwas
zu tun. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht mal, ob ich hierbleiben soll! Ich könnte
einfach wegfahren und nie wieder ans Meer zurückkehren, dann können deine Leute
mir auch nichts anhaben.“
„Aber dann stirbt deine Seele auf eine andere Weise. Du
brauchst das Meer. Du brauchst dieses Meer.“
Fletch öffnete schon den Mund, um dem Nonsens zu
widersprechen, als ihm Erinnerungen aus seinem Leben durch den Kopf schossen.
Wann immer er sich schlecht gefühlt hatte, war er irgendwie letzten Endes
wieder am Wasser gelandet, weil der Anblick ihn selbst dann noch beruhigte,
wenn ein Sturm darüber fegte. Vielleicht hatte Cian ja recht.
„Was soll ich stattdessen machen?“, fragte er also direkt
nach.
Mit einer Kraft, die man dem schmalen Körper nicht
zutraute, zog Cian sich weiter hoch, bis ihre Gesichter nur knapp voneinander
entfernt waren.
„Noch beraten sie, was mit dir zu tun ist.“
Fletch nickte, während er fasziniert die unnatürlich
hellen Augen musterte, in denen sich einige dunkle Flecken versteckten. Ihm
war, als könne er spüren, wie sein Herz langsamer schlug als zuvor. Das war
absurd. Nur, weil dieses Wesen, dieser Junge ihm Unsinn erzählte, würde er doch
nicht darauf eingehen.
„Und?“
„Wir können bestimmt herausfinden, was wir machen
sollten, wenn wir nur genug darüber nachdenken“, sagte Cian so sanft, dass
Fletch ihn fast nicht hörte.
„Also morgen wieder hier?“
„Morgen wieder hier.“
Mit diesen Worten stieß sich Cian von ihm los und
verschwand zurück in die Fluten.
Fletch ließ sich rücklings auf den Sand fallen und fuhr sich lachend mit den Händen über das Gesicht. Was machte er hier nur?
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