Es gibt nur drei Arten von Geschichten:
1. Geschichten, die über die Zeit an Substanz verlieren,
bis sie im Gedächtnis nicht mehr als die Erinnerung an einen Zustand, ein
Gefühl sind, bis jemand sie wieder hervorholt und mit Details auffüttert. Sie
werden zu einem Schatten ihrer selbst.
2. Geschichten, die mit den Jahren immer weiter aufgeplustert
werden, sich verändern, bis der Kern noch der gleiche ist wie zuvor, die
Einzelheiten jedoch andere Ausmaße annehmen.
3. Geschichten, die man so oft gehört hat, dass man das
Gefühl hat, man wäre dabei gewesen, ohne es wirklich gewesen zu sein. Sie
werden gerne erzählt, häufig erzählt und oft auch im selben Wortlaut. Es sind emotionale
Geschichten, die eine Person immer wieder gerne als Beispiel für irgendetwas
anführt.
Gibt es nicht zu jeder der drei Kategorien sofort
Beispiele, die einem in den Sinn kommen? Wie das Erlebnis meiner Schwester, bei
dem der Rucksack, den sie getragen hat, über die Jahre an Schwere zugenommen zu
haben scheint? Oder meine Einschulung, die zwar irgendwie noch da ist, aber
nicht so präsent ist wie die meiner Schwester, bei der meine Klasse eine kleine
Aufführung gemacht hat? Oder die Dinge, die mir meine Mutter immer wieder gerne
erzählt, was so weit geht, dass ich in den Momenten auf Durchzug schalte, weil
ich sie schon runter beten kann?
Nun kann man sagen, das sei doch bei Weitem noch nicht
alles, immerhin entstünden so viele Geschichten, jeden Tag, überall auf der
Welt, doch was sind diese genau? Dinge, die tatsächlich geschehen sind, fallen
selbstverständlich irgendwann in eine der drei Kategorien, denn das Gehirn
sortiert für uns nach Wichtigkeit, sodass wir das, was nicht relevant ist, sehr
schnell wieder vergessen.
Fiktive Geschichten sind eindeutig in die ersten beiden
Kategorien einzuordnen. Was immer ich auch lese oder sehe, ich vergesse vieles
davon, meist sofort nach dem der Film/das Buch zu Ende ist. An anderen Stellen
hingegen dichtet mein Kopf Sachen hinzu, die vielleicht in einer Geschichte zur
Geschichte gestanden haben, oder Inhalte, die ich gerne darin gesehen hätte
oder aus ganz anderen Quellen stammen, sich aber wunderbar einfügen. Selbst
beim Schreiben kann ich mir nur einen Bruchteil dessen merken, was ich zu
Papier gebracht habe, weshalb ich oft Überraschungen erlebe, sobald ich meine
Texte von vorne beginne. Zudem entwickelt sich das geschriebene Wort von einer
bloßen Idee im Kopf einer Person zu einem großen Ganzen, aus dem im Normalfall
nur ein Stück präsentiert wird. Hintergrundgeschichten bleiben
unveröffentlicht, Zukunftsaussichten werden nur angedeutet. Es sind
Geschichten, die wie ein Wesen gewachsen sind, aber das Wachstum bekommt man
als Leser/Zuschauer nicht mit. Man erhält einen Ist-Zustand mit einigen
Rückblenden, um Verhaltensweisen verständlich zu machen – und doch hat es sich
mit ihnen nicht anders verhalten als mit dem immer schwerer gewordenen Rucksack
meiner Schwester.
Ich weiß gar nicht, was ich anderes sagen soll, als: wunderschön formuliert. Ich hab diese Gedanken gern gelesen. Sehr gerne.
AntwortenLöschenDankeschön. Irgendwie langweilt der Sick mich zwar streckenweise, doch er hebt meine Ausdrucksweise ein wenig. Wie ich schreibe, sobald ich mit den drei Bänden fertig bin, will ich mir noch gar nicht wieder vorstellen...
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